Dan Brown: „The Da Vinci Code“ - ein „Sakrileg“?

Wisst Ihr mehr über Mythologie, Philosophie, Religionen, Symbole, Mystik, Joseph Campbell etc., als Ihr in englischer Sprache ausdrücken könnt? Oder interessieren euch Themen, die speziell für den deutschen Sprachraum relevant sind? Für Beides ist das deutschsprachige Diskussionsforum der richtige Ort!

Moderator: Martin_Weyers

somehopesnoregrets
Associate
Posts: 266
Joined: Tue Apr 15, 2008 6:01 pm
Location: Northern California

Post by somehopesnoregrets »

"Schlangenölverkäufer" gibt es hier auch, nur heißen sie bei uns Scharlatane oder (veraltet) Quacksalber.
Ach ja, genau... das sind die Begriffe nach denen ich suchte. "Quackery" gibt es ja auch im Englischen als Ausdruck, aber fiel mir in dem Moment einfach nicht ein.
Heute verkaufen sie keine Heiltränke, sondern Bücher.
Oder politische und sonstige Ueberzeugungen, Philosophien, Aengste, Verschwoerungstheorien, sowie Weltbilder...
Damit meine ich allerdings nicht Dan Brown, der ja eigentlich ein harmloser Verfasser von Unterhaltungsromanen ist, sondern vielmehr jene Marketingstrategen, die solange ohne Rücksicht auf Verluste Bildungsinhalte mit unterhaltsamem Nonsens vermischen, bis der Geschmack des breiten Publikums getroffen ist.
Sieht so aus, als ob ich das ein bisschen strenger definiere. Fuer mich ist jeder, der die Naivitaet von anderen Leuten fuer Profit ausnutzt anstatt ernsthaft versucht, Wissen und Weisheit zu vermitteln, ein Scharlatan. Dan Brown's Schreibe ist zwar nicht superschlimm und seine Absichten ("unterhalten") sind nicht unbedingt "boese," aber in meinen Augen traegt solcher Schund zum allgemeinen Hintergrundlaerm mit bei, der Leute verwirrt, stresst, und den richtig ueblen Scharlatanen verwundbarer ausliefert. Wer weiss, vielleicht ist das einfach nur eine Form von Paranoia meinerseits. Kann gut sein...

Ist uebrigens kein neues Problem (siehe Matthew 21:12-13):
12And Jesus went into the temple of God, and cast out all them that sold and bought in the temple, and overthrew the tables of the moneychangers, and the seats of them that sold doves, 13And said unto them, It is written, My house shall be called the house of prayer; but ye have made it a den of thieves.
Oder, in Luther's Uebersetzung, noch feuriger:
12Und Jesus ging zum Tempel Gottes hinein und trieb heraus alle Verkäufer und Käufer im Tempel und stieß um der Wechsler Tische und die Stühle der Taubenkrämer 13und sprach zu ihnen: Es steht geschrieben: "Mein Haus soll ein Bethaus heißen"; ihr aber habt eine Mördergrube daraus gemacht.
Natuerlich sind Geldwechseln und Tauben verkaufen hilfreiche und mehr oder weniger ehrenwerte Berufe. Es kommt eben auf den Kontext an...
Die einen (vermutlich wenigen) stoßen dann wie du und ich auf seriöse Arbeiten, die die Theorien, auf die Dan Brown zurückgreift, in einem ziemlich schlechten Licht dastehen lassen, die anderen (vielen) greifen auf reißerische Sachbücher zurück, in denen absurde Verschwörungstheorien entwickelt werden. Irgendwie beschleicht mich ein ungutes Gefühl bei dieser Art, "Bildung" zu vermitteln.
Ist irgendwie eher ein Lotterie-Verfahren. Wenn Du Glueck hast, kriegst Du Wissen. Wenn Du eine Niete ziehst, Missinformation. Deshalb halte ich fuer eine der wichtigsten Faehigkeiten in unserer extremen Informationsgesellschaft "Medien-Weisheit": die Glaubwuerdigkeit von Quellen einzuschaetzen wissen und die entsprechenden Neuinformationen gekonnt in groessere Gesamtzusammenhaenge einordnen und mit anderen Quellen im Vergleich abwaegen. Da scheinen unsere Schulen (selbst die Journalisten-Schulen!) ein bisschen hinterherzuhinken. Ich hoere viel vom "kritischen Denken," aber mir begegnen recht wenige Leute, die das tatsaechlich draufhaben.

Ja, der Bereich des "Edutainment" schadet oft mehr als er hilft. Ist auch einer der Gruende warum ich momentan mit meinen (im Vergleich zu anderen Student[inn]en) eher reifen 41 Jahren und mehr als zehn Jahren Berufserfahrung in Visueller Kommunikation/Graphik-Design wieder teilzeit zur Uni gehe. Ich studiere derzeit auf ein "bachelor's degree" in Psychologie mit Religionsstudien im Nebenfach hin, denn es kommt mir vor, als ob es derzeit mehr als genug Bilder gibt, aber nicht genug Leute, die anderen helfen, diese konstruktiv zu deuten...
Es gibt hierzulande kaum mehr ein kulturelles Bewusstsein, alles ist nur noch auf Geldvermehrung ausgerichtet, und insofern kann ich es nur allzugut verstehen, wenn Leute nach Kalifornien auswandern. San Francisco hat mich immer interessiert, dort scheint mir sozusagen die Avantgarde amerikanischer Kultur (wozu ich auch die Joseph Campbell Foundation zähle) zuhause zu sein.
S.F. ist eine interessante Stadt. Leider sind die Mieten hier in den letzten Jahren so explodiert, dass viele der nicht so geldgierigen Kulturtraeger sich das hier sein gar nicht mehr leisten koennen. Ich weiss nicht ob ich mich nach "kulturellem Bewusstsein" zuruecksehne, denn das kann versehentlich leicht in Elitismus abkippen. Da ist mir die gute alte "Weisheit," die allem, dem Hoechsten wie dem Niedrigsten, Lernens-, Lebens- und Liebenswertes abzugewinnen weiss, schon lieber.

With loving respect,
:) Julia

Martin_Weyers
Working Associate
Posts: 4054
Joined: Mon Mar 25, 2002 6:00 am
Location: Odenwald
Contact:

Post by Martin_Weyers »

somehopesnoregrets wrote: Ich weiss nicht ob ich mich nach "kulturellem Bewusstsein" zuruecksehne, denn das kann versehentlich leicht in Elitismus abkippen. Da ist mir die gute alte "Weisheit," die allem, dem Hoechsten wie dem Niedrigsten, Lernens-, Lebens- und Liebenswertes abzugewinnen weiss, schon lieber.
Also, versuchen wir doch, dem Da Vinci Code Lernens-, Lebens- und Liebenswertes abzugewinnen! :wink:

Kleiner Nachtrag: Neben Quacksalber und Scharlatan fällt mir noch der Kurpfuscher ein.

In meinen Augen sind Kunst und Kultur (und damit meine ich das ganze Spektrum von Film, Malerei, Musik, Architektur, Literatur usw.) kein überflüssiger Luxus sondern lebenswichtig. Unsere gegenwärtige Kultur ist dagegen in erster Linie auf Materialismus, Zerstreuung und Reizüberflutung ausgerichtet. Geistige und spirituelle Bedürfnisse kommen zu kurz, weshalb sich viele in noch mehr Materialismus, Zerstreuung und Reizüberflutung flüchten.

Mir kulturellem Bewusstsein meine ich daher keine elitäre Haltung, die eine überlegene Minderheit vom Rest der Gesellschaft abkoppeln soll, sondern vielmehr die Schärfung des Bewusstseins, der Wahrnehmung, des Unterscheidungsvermögens sowie eine Steigerung der Sensibilität für geistige und seelische Prozesse.

Die Universitäten hierzulande werden immer mehr in Ausbildungsbetriebe für die Wirtschaft verwandelt, Museen und Kulturinstitutionen werden von Wirtschaftsfachleuten und Marketingexperten geleitet, Kunstexperten streiten über Begriffe, haben aber das Sehen, hören, fühlen verlernt. Mein Eindruck ist, das wir vornehmlich die schlechten Seiten der amerikanischen Kultur übernehmen, d.h. vor allem den überzogenen Kapitalismus und Materialismus.

Schon in der Schule ist bedauerlicherweise das Lernen fast durchweg auf Zweckdenken ausgerichtet, nicht jedoch auf die innere Entwicklung des Menschen. Mit dem Ergebnis, dass uns von früh an einprogrammiert wird, im Leben komme es zuallererst darauf an, reich, schön und wenn möglich berühmt zu werden. Elitär ist m.E. die allgegenwärtige Überbewertung der Prominenten aus Film, Fernsehen, Mode usw., denen praktisch die ganze Gesellschaft nacheifert. Das alles dient letztlich bloß dazu, die innere Leere zu verdängen, die allgegenwertig ist.

Wenn du schreibst, dass es heute darauf ankommt, anderen zu helfen, die Bilder unserer Kultur konstruktiv zu deuten, ist das gar nicht weit entfernt von dem, was ich mit kulturellem Bewusstsein meine. Bildung bedeutet für mich vor allem Persönlichkeitsbildung, und erst in zweiter Linie Ausbildung auf einen praktischen Zweck (Beruf) hin. Andernfalls geht man einem Beruf nach, der nicht als Berufung sondern als Job verstanden wird.

So, wie kriegen wir nun den Bogen zurück zum Thread-Thema? Wie wär's hiermit: Liebe Lehrer, Ihr müsst nicht im Unterricht den Da Vinci Code behandeln; Auch seriöse Bildung kann man spannend aufziehen!
Works of art are indeed always products of having been in danger, of having gone to the very end in an experience, to where man can go no further. -- Rainer Maria Rilke

Mustafa
Associate
Posts: 7
Joined: Mon Dec 24, 2007 8:26 pm

Post by Mustafa »

Hallo !

Also ich würde mit Dan Brown nicht so hart ins Gericht gehen .
Er hat da doch eigentlich nur einen Kriminalroman geschrieben und ein bißchen Verschwörungstheorie eingebaut .
Wenn jemand das alles für bare Münze nimmt , ist er doch selbst schuld .

Wobei gerade eben durch das lesen dieses Buches manche Leute überhaupt erst auf die Idee kommen , sich mit der Gesamtthematik ein wenig genauer zu befassen , und somit letztendlich zu tatsächlichen Informationen kommen , auf die sie vorher gar nicht gestossen wären .

Wie viele Leute wissen z.B. daß die Wesensgleichheit Jesu mit Gott erst auf einem Konzil im 4.Jhd. festgelegt wurde ?
Wenn sowas nun bei Dan Brown steht , werden doch sicher einige nachforschen wollen , ob das wirklich stimmt .

Und überhaupt : Ist die "offizielle" Version über Jesus denn glaubwürdiger als das , was Dan Brown schreibt ? ;-)

Ich meine , wieviele Leute glauben wörtlich an die Bibel und sind sich überhaupt keiner religiösen bzw. mythologischen Entwicklung bewusst ? (z.B. bei der Geschichte mit der Auferstehung Jesu )

Dan Brown nennt ja auch ein paar Fakten und wie gesagt : Wenn es die Leser annimiert , etwas weiterzuforschen , dann ist es gar nicht schlecht .

Martin_Weyers
Working Associate
Posts: 4054
Joined: Mon Mar 25, 2002 6:00 am
Location: Odenwald
Contact:

Post by Martin_Weyers »

Hallo Mustafa, schön mal wieder von dir zu hören!

Wahrscheinlich hast du recht, man kann es einem Verfasser von Unterhaltungsromanen nicht verübeln, wenn er sich so gut wie möglich vermarkten lässt.

Leider haben viele Leser nicht die Zeit, oder auch nicht den nötigen Bildungshintergrund, um Wahrheit von Fiktion zu trennen. Wo sich also einige wenige zum seriösen Weiterforschen angeregt fühlen, nehmen viele die Spekulationen für bare Münze, da vonseiten des Verlags eben gezielt ANdeutungen gestreut wurden, es sei doch etwas Wahres an den Thesen, die ja bekanntlich von einem zweifelhaften Buch bzw TV-Film übernommen wurden. Wie weiter oben angeführt, richtet sich meine Kritik daher vornehmlich an den Verlag.
Works of art are indeed always products of having been in danger, of having gone to the very end in an experience, to where man can go no further. -- Rainer Maria Rilke

SiCollier
Associate
Posts: 120
Joined: Fri Sep 26, 2003 5:00 am
Location: Germany (Hessen)
Contact:

Post by SiCollier »

Martin
In meinen Augen sind Kunst und Kultur (und damit meine ich das ganze Spektrum von Film, Malerei, Musik, Architektur, Literatur usw.) kein überflüssiger Luxus sondern lebenswichtig. Unsere gegenwärtige Kultur ist dagegen in erster Linie auf Materialismus, Zerstreuung und Reizüberflutung ausgerichtet. Geistige und spirituelle Bedürfnisse kommen zu kurz, weshalb sich viele in noch mehr Materialismus, Zerstreuung und Reizüberflutung flüchten.
Das (und auch Dein weiteres Post) kann ich nur unterschreiben. Mir war gar nicht bewußt, wie sehr wir in zentralen Dingen gleicher Meinung sind.

Mustafa
Er hat da doch eigentlich nur einen Kriminalroman geschrieben und ein bißchen Verschwörungstheorie eingebaut .
Schon, aber im Vorwort schreibt er:
Sämtliche in diesem Roman erwähnten Werke der Kunst und Architektur und alle Dokumente sind wirklichkeits- bzw. wahrheitsgetreu wiedergegeben. (Seite 9, Hardcover-Ausgabe)
Womit er einen gewissen Wahrheitsanspruch stellt. Den er jedoch nicht einlösen kann, weil dieser Satz schlicht und einfach falsch ist. Ich habe damals, nach der Lektüre des Buches, einiges an Sekundärliteratur gelesen; das war doch recht ernüchternd. Allerdings sind mir auch einige interessante (ernsthafte) Bücher über Maria Magdalena in die Hände gefallen (leider noch nicht alle gelesen), das ging mir ähnlich wie somehopesnoregrets.
Mustafa
Dan Brown nennt ja auch ein paar Fakten und wie gesagt : Wenn es die Leser annimiert , etwas weiterzuforschen , dann ist es gar nicht schlecht .
Der Fakten sind recht wenige, der Fiktion recht viel. Allerdings das Weiterforschen hat damals Spaß gemacht. Man muß nur aufpassen, Bücher seriöser Autoren zu finden und nicht solchen aufzusitzen, die nur ihre eigenen Verschwörungstheorien verbreiten wollen.
"The most convincing proof for the existance of water ist thurst." Franz von Baader (1765-1841)

Mustafa
Associate
Posts: 7
Joined: Mon Dec 24, 2007 8:26 pm

Post by Mustafa »

Die Vermarktungsstrategien sind in der Tat kritikwürdig .

Allerdings bin ich mir trotzdem nicht sicher , ob das Lesen dieses Buches der Bildung in diesem Bereich so sehr schadet .

Die Krimigeschichte und Verschwörungstheorie wird hoffentlich jeder Leser als solche erkennen . Ich meine , das ganze wird ja nun nicht als Fachbuch oder Doku angeboten.

Und was die anderen Theorien angeht (wie z.B. Jesu Frau) :

Sowas ist natürlich pure Spekulation , aber es zeigt den Lesern , daß man die Jesus-Geschichte auch aus anderen Blickwinkeln betrachten kann .

Ich bezweifle einfach , daß die unkritischen Leser vor dem Lesen des Buches so viel besser über die Thematik informiert waren , daß ihnen das Buch schadet .

Und viele werden wie gesagt dann erst anfangen , sich damit auseinanderzusetzen ,was ja grundsätzlich nicht schlecht ist .

Das ändert aber natürlich nichts an der Tatsache , daß eine ehrlichere Vermarktung wünschenswert wäre , und daß das Buch nicht als wirkliche Infoquelle gelten kann .

Mir ging es hier nur um die Frage , ob das Buch "schadet" .

somehopesnoregrets
Associate
Posts: 266
Joined: Tue Apr 15, 2008 6:01 pm
Location: Northern California

Post by somehopesnoregrets »

Leider haben viele Leser nicht die Zeit, oder auch nicht den nötigen Bildungshintergrund, um Wahrheit von Fiktion zu trennen.
In diesen Zeiten der extremen Informationsflut finde ich es extrem wichtig, etwas zu betreiben, das hier in Ami-Land "conscious source allocation" genannt wird. Zum Beispiel, wenn wir jemandem etwas erzaehlen, dabei auch zu sagen, ob wir das nun selber erlebt, wissenschaftlich erforscht, oder gelesen haben, und wenn gelesen, dann wo. Die wenigsten Leute machen das natuerlicherweise (faellt wahrscheinlich unter den obig erwaehnten "Bildungshintergrund" und kommt den meisten Nichtwissenschaftlern zu schulmeisterlich vor?). Es kostet Muehe und Disziplin. Aber in meinen Augen gehoert das einfach zur noetigen Informationshygiene, denn ohne diese Form von Selbstdisziplin verbreiten sich Misinformationen exponentiell. Das Problem, wenn wir einfach Anekdoten weitererzaehlen, ohne zu sagen oder uns ueberhaupt zu erinnern, woher die nun kamen, dann bilden sich Fehlinformationen und gefaehrliche Mythen. Das ist vielleicht im Bereich des Glaubens, den Dan Brown mit seinem Buch (in meinen Augen) misrepresentiert, nicht so schlimm, aber in anderen Bereichen (Medizin, Kindererziehung, Beziehungen, politische Wahlentscheidungen) kann das tatsaechlich viel unnoetiges Leiden und Schmerz bringen. Interessanterweise ist mein Problem mit Brown nicht dass er Kirchendogma angreift. Von Dogma halte ich generell nicht viel. Aber den Satz im Vorwort, den SiCollier erwaehnt, gibt es in der amerikanischen Originalausgabe auch, und der ist einfach eine glatte Luege und verwirrt Leute unnoetig. Das ueberschreitet fuer mich die Grenze des Fantasievollen (etwas Schoenes im Leben) zum Betruegerischen.
Mir ging es hier nur um die Frage , ob das Buch "schadet" .
Ich bin mir nicht sicher, Mustafa. Es ist gut moeglich, dass denjenigen, die dieses Buch fuer absolut bare Muenze halten, ohnehin nicht mehr zu helfen ist. Aber ich weigere mich, so zynisch ueber Leute zu denken (und es erscheint mir, dass dies die Haltung ist, von der Dan Brown bewegt war, als er diesen einen, problematischen Satz seinem Unterhaltungsroman voranstellte).

Danke, Martin, fuer die Klaerung des Begriffs "Kulturbewusstsein." Das macht Sinn.

Mit lieben Gruessen,
:-) Julia

somehopesnoregrets
Associate
Posts: 266
Joined: Tue Apr 15, 2008 6:01 pm
Location: Northern California

Post by somehopesnoregrets »

Das folgende Zitat habe ich in dem Buch "Die Mondsteinmaerchen" von Roland Kuebler gefunden:
Traurig sass der alte Maerchenerzaehler auf den weichen Teppichen und sah ihr entgegen. "So vieles hat sich veraendert in meiner Stadt", fluesterte er. Weshalb bist du damals fortgegangen?" wollte Gwen wissen. Oyano schluckte muehsam und sprach fast tonlos weiter: "Ich musste mitansehen, wie sich fast alle Menschen hier nur noch um ihre Geschaefte kuemmerten. Feilschen und Handeln, Kaufen und Verkaufen, Raffen und Nie-genug-bekommen, wurden ihr Lebensziel. Und von mir, von mir wollten sie am Abend mit Geschichten unterhalten werden!" Oyano stiess das Wort 'Geschichten' verbittert und abfaellig hervor. "Ja, sie wollten, dass ich ihnen kleine, kurzweilige und unterhaltsame Geschichten erzaehle. Irgend etwas, worin sie sich verlieren konnten. Meine Maerchen aber, die ich ja erzaehle, damit sich Menschen darin finden, wollten sie nicht mehr hoeren. [...]
Als ich auf diese Passage stiess erinnerte mich das an unseren Meinungsaustausch hier. Mein Hauptproblem mit dem "Da Vinci Code" spiegelt den Frust des oben beschriebenen Maerchenerzaehlers wieder. Das Buch ist offensichtlich zum "sich drin Verlieren," nicht "zum sich drin Finden" geschrieben. Also, die Frage scheint mir nicht "ist dieses Buch 'gut' oder 'schlecht,' sondern 'ist es legitim, sich in Buechern zu verlieren'? Meiner Ansicht nach ist das Leben zu kurz und zu kostbar, um es an kurzweilige Zeitvertreibe billig wegzuwerfen. Ich war sehr enttaeuscht, denn das Buch war mir damals von jemandem empfohlen worden, der es ganz toll fand. Aber vielleicht bin ich ja auch nur ein ganz schlimmer Literaturelitist ... Man kann ja nicht immer etwas lernen? Oder vielleicht doch? Weiss ich nicht.

Ich hatte als Kind einen laengeren Streit mit meinem Vater, der nicht wollte, dass ich "Schund" las, und in dessen Augen Karl May unter selbigen "Schund" fiel. Aber ich liebte seine Geschichten vom wilden Westen und nahen Osten, die von Freundschaft, Edelmut, Verrat, und dem ueber sich Hinauswachsen handelten, und fuehlte mich von den Erzaehlungen inspiriert und, waehrend meiner nicht immer ganz einfachen Kindheit, getroestet, obwohl ich wusste, dass May sich das alles aus den Fingern gesogen hatte und nie tatsaechlich so weit gereist war. Also lieh ich sie mir weiter gegen den Willen meines Vaters in der Buecherei aus und versteckte sie in einer Plastiktuete, mit einer Schnur hinter dem Kleiderschrank heruntergelassen, das Ende der Schnur oben auf dem Schrank mit Klebeband festgemacht.

Aus dieser Kindheitserfahrung habe ich die Idee mitgenommen, dass was fuer eine Person Schund ist fuer eine andere Person eine Botschaft enthalten kann, die in dem Moment wichtig ist. Weshalb ich Zensur, ob nun politisch oder geschmacklich, problematisch finde. Also moechte ich schon betonen, dass meine Ablehnung des "Da Vinci Codes" sehr persoenlich ist und ich keinesfalls anderen Leuten vorschreiben moechte, was sie nun lesen sollen und was nicht... (obgleich mir es lieber waere, wenn Dan Brown sein Talent und seine Energie dazu einsetzen wuerde, Leuten beim sich Finden zu helfen und nicht beim sich Verlieren)...

Liebevoll,
:-) Julia

Gerard
Working Associate
Posts: 398
Joined: Sun Jan 23, 2005 7:26 pm
Location: Amsterdam.

Post by Gerard »

somehopesnoregrets wrote:
Leider haben viele Leser nicht die Zeit, oder auch nicht den nötigen Bildungshintergrund, um Wahrheit von Fiktion zu trennen.
In diesen Zeiten der extremen Informationsflut finde ich es extrem wichtig, etwas zu betreiben, das hier in Ami-Land "conscious source allocation" genannt wird. Zum Beispiel, wenn wir jemandem etwas erzaehlen, dabei auch zu sagen, ob wir das nun selber erlebt, wissenschaftlich erforscht, oder gelesen haben, und wenn gelesen, dann wo. Die wenigsten Leute machen das natuerlicherweise (faellt wahrscheinlich unter den obig erwaehnten "Bildungshintergrund" und kommt den meisten Nichtwissenschaftlern zu schulmeisterlich vor?). Es kostet Muehe und Disziplin. Aber in meinen Augen gehoert das einfach zur noetigen Informationshygiene, denn ohne diese Form von Selbstdisziplin verbreiten sich Misinformationen exponentiell. Das Problem, wenn wir einfach Anekdoten weitererzaehlen, ohne zu sagen oder uns ueberhaupt zu erinnern, woher die nun kamen, dann bilden sich Fehlinformationen und gefaehrliche Mythen.

Meinst du, das es ausserhalb Wissenschaft also kein Wahrheit geben kann? Ich glaube das gerade die groesste Entdeckungen auf dem Moment ihrer Entdeckung (Ent-deck-ung) NICHT wissenschaftlich waren. Die Geschichte ist voll von Beispiele.

Mir ging es hier nur um die Frage , ob das Buch "schadet" .
Die Frage ist wer bestimmt ob etwas schaedlich ist. Wir haben schoene Beispiele an die Rom. Katholische Kirche, der Islam isw. Wenn Die bestimmen duerfen, ODER der Wissenschaft, oder die Oeconomie, kann das kann ziemlich gefaerlich werden.


Ich bin mir nicht sicher, Mustafa. Es ist gut moeglich, dass denjenigen, die dieses Buch fuer absolut bare Muenze halten, ohnehin nicht mehr zu helfen ist.

Mit lieben Gruessen,
:-) Julia
Ich werde meist kritisch (oder sogar skeptisch) wenn ein Buch auf Einmal ein 'hype' wird. (Besser: zu ein Hype gemacht wird). Meistens dauert das 2 Jahre, haben welche Leute (Verleger zum Beispiel) genug daran verdient und dann hoert man nichts mehr davon. Wer redet noch ueber James Redfield zum Beispiel?

Ich hab mal mit Verleger geredet. Es geht alles nach Formats. Die verleger selektieren DER Author raus wovon man weiss das er/sie am besten verhaufen wird.

Das hat nichts mit Wahrheit zu tun, sondern mit Gewinn.
Sisyphus Laughs

somehopesnoregrets
Associate
Posts: 266
Joined: Tue Apr 15, 2008 6:01 pm
Location: Northern California

Post by somehopesnoregrets »

Hallo Gerard;

schoen, Dich kennenzulernen!
Meinst du, das es ausserhalb Wissenschaft also kein Wahrheit geben kann?
Nein, das obige Zitat spiegelt meine Meinung nicht wider. Den Wahrheitsanspruch, den manche (meiner Erfahrung nach wenige, und, wenn ueberhaupt, oft weniger talentierte) Wissenschaftler haben, halte ich fuer eine Form von Verblendung. Ist oft noch schlimmer mit "Pseudo"-Wissenschaftlern, Leute, die gerne mit Jargon um sich werfen aber keinen tatsaechlich wissenschaftlichen Hintergrund haben sondern nur gerne so tun--weiss nicht ob es das in Deutschland derzeit auch gibt, aber hier in den Staaten, speziell in Kalifornien, sehe ich das recht oft. Oder bissige Humanisten, die sich den arroganten Wissenschaftler gerne zum Strohmann/Daemon machen. Meiner Erfahrung nach sind die meisten intelligenten Wissenschaftler (wie in jedem Bereich gibt es auch hier Fachidioten) sich der Grenzen ihrer Werkzeuge bewusst. Denn das ist Wissenschaft: Ein Werkzeug.

Genauso koenntest Du (genauso inkorrekterweise) sagen, dass ein Hammer Wahrheit representiert. Ein Hammer an sich ist nur ein Werkzeug. Wenn ich den gekonnt schwinge und ein Haus damit baue oder ein genial weises und voll ueberzeugendes Gedicht in einen Stein meissele, dann kann der Hammer mich und andere vielleicht der "Wahrheit" ein bisschen naeherbringen. Aber er selbst ist nur wahr im Sinne dessen, das er physikalisch existiert. Wenn der Hammer missbraucht wird (zum Beispiel als Mordwaffe oder zum Vandalisieren), dann bringt er mehr Ignoranz. Wenn er hingegen weise genutzt wird, bringt er mehr Wahrheit. Es kommt auf den oder die an, der oder die ihn schwingt. Und manchmal gibt es schwierige Grauzonen, zum Beispiel Zerstoerung, die Raum fuer Neues macht, oder Tyrannenmord.

"Wissenschaft" als Werkzeug ist komplexer als ein Hammer, aber sie folgt dennoch aehnlichen logischen Regeln. Ich kann sie missbrauchen, wenn ich Dr. Mengele bin. Ich kann mit ihr Bedingungen schaffen, die der Weisheit und Wahrheit dienlich sind. Zum Beispiel, wenn ich durch agrikulturelle und medizinische Neuerungen den Ueberlebensdruck in manchen Gegenden etwas vermindere, haben die Leute dort mehr Energie, sich wichtigeren Lebensfragen zu widmen. Oder die extra Zeit und Energie mit dem Lesen von Dan Brown Romanen zu verschwenden...
:wink:

Wissenschaft kann genaugenommen nicht Wahrheit finden, nur Falschheit Stueck fuer Stueck enthuellen. Je mehr Gegenargumente sich als unwahr herausstellen, desto vertrauenswuerdiger (aber nicht unbedingt "wahrer") wird mein Argument. Viele Nichtwissenschafter verstehen das nicht und sind verwirrt, mit dem Resultat, dass sie entweder uebermaessig wissenschaftsglaeubig sind oder Wissenschaft und Wissenschaftler zum Boesewicht in irgendeiner Verschwoerungstheorie machen.

Idealerweise arbeiten wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Methoden bei der Wahrheitsfindung (oder Falschheits-Widerlegung) kreativ zusammen. Unsere (vollkommen unwissenschaftliche) Kreativitaet und Intuition bringt uns vielleicht eine Idee. Wissenschaftsmethoden, wie zum Beispiel das (idealerweise doppelblinde und placebo-kontrollierte) Experiment, die Auswertung grosser Datenmengen mit statistischen Mitteln, und die Methode des "peer-review" (die eigenen Funde einem wissenschaftlichen Magazin mit Editoren, die in dem Fach geschult sind, vorlegen, so dass andere Wissenschaftler, die im selben Bereich arbeiten, diese bestaetigen, weiterspinnen, oder widerlegen koennen), helfen uns dann, Beweise fuer oder gegen diese Idee zu sammeln. Manche Ideen sind sehr schoen aber dennoch falsch. Wissenschaftliche Beweisfuehrung hilft uns, die Spreu vom Weizen zu trennen. Aber ohne die urspruengliche, voellig unwissenschaftliche Ausgangsidee haette der Wissenschaftler nichts zu forschen.

Durch die Natur der wissenschaftlichen Methoden koennen wir beweisen, dass etwas falsch ist. Aber anstatt Wahrheit finden wir immer nur statistische Annaeherung. Zum Beispiel, ein Ergebnis koennte so aussehen: "Mit 96% Wahrscheinlichkeit ist das Resultat nicht das Ergebnis von zufaelligen statistischen Schwankungen, sondern deutet auf einen tatsaechlichen Behandlungseffekt hin."

Viele dieser Studien zusammengenommen fuehren dann zu einem “Modell,” das wiederum nicht Wahrheit selber representiert, sondern nur meine Denkweise ueber den Zusammenhang, den es beschreibt, illustriert und mir damit erlaubt, mich mit anderen Wissenschaftlern (und/oder interessierten und informierten Laien, z.B. Wissenschaftsjournalisten) auszutauschen und diese Denkweise ueber die darauffolgenden Jahre, Jahrzehnte, oder sogar Jahrhunderte entweder zu verfeinern oder zu widerlegen. Es gibt Bereiche, in denen eine bestimmte Denkweise so vielfach belegt wurde, dass sie eine gewisse Authoritaet erworben hat, wie zum Beispiel die verfeinerten, heutigen Formen der Evolutionstheorie, die heutzutage nur noch von Christlichen Radikalfundis bezweifelt wird. Andere Modelle, wie zum Beispiel Atom-Modelle in der Chemie, scheinen einander zu widersprechen aber erklaeren einfach nur unterschiedliche Aspekte einer komplexeren Realitaet. Zum Beispiel Dalton's Atom-Modell erklaert manche Dinge, Bohr's Atom-Modell andere, Schroedinger's Atom-Modell wieder andere. Wenn wir ein Modell as "Wahrheit" missverstehen, dann ist es peinlich, wenn wir hier ploetzlich drei verschiedene Modelle vom gleichen Ding haben, die alle parallel (z.B. im Naturkundeunterricht) benutzt werden. Wenn wir diese drei Modelle jedoch nicht als absolute Wahrheiten sondern als Illustrationen der jeweiligen Ideen von Dalton, Bohr, und Schroedinger sehen, loest sich der Widerspruch auf. Denn anstatt einander zu bekaempfen, zeigen diese drei die gleiche, sehr viel komplexere Wahrheit einfach von drei verschiedenen, jeweils mehr (auf verschiedene Details) fokussierten Perspektiven.

Aehnlich denke ich auch ueber verschiedene Philosophien und Religionen. Alle beschreiben sie verschiedene, interessante Aspekte der sehr viel groesseren und sehr viel komplexeren Realitaet. In mystischen Zustaenden kriegen manche von uns einen etwas weiteren Einblick, der sich allerdings nur sehr klaeglich und unvollstaendig ins geschriebene Wort uebersetzen laesst. Fundamentalisten (egal ob nun Christlich, Islamisch, Marxistisch, oder Scientistisch), die der festen Ueberzeugung sind, ihr Denkmodell ist die einzige "Wahrheit," verstehen dass normalerweise nicht. Natuerlich gibt es auch Wissenschafts-Fundamentalisten und -Literalisten (Leute, die verwirrt alles Symbolische total woertlich nehmen), aber recht wenige, denn in den letzten Jahrzehnten hat sich die Wissenschaftsmethodik und -philosophie (oft am Radar der Allgemeinbevoelkerung und obig erwaehnter bissiger Humanistischer Philosophen vorbei) sehr interessant und effektiv weiterentwickelt. Deshalb waere ich immer sehr skeptisch, wenn ploetzlich jemand kommt und behauptet, die “mainstream”-Wissenschaftler verstehen ihn/sie nicht und er/sie hat die tatsaechliche Wahrheit. Es ist nicht total unmoeglich, dass solch eine vollkommene Neuentwicklung in voelliger Isolation, die etwas zeigt, was bis jetzt alle Anderen einfach uebersehen haben, tatsaechlich geschieht, aber (im Lichte der heutigen weiten Vernetzung verschiedener Forschungsbereiche) sehr, sehr unwahrscheinlich.

Ein wissenschaftliches Modell ist also keine Wahrheit, sondern eine METAPHER, die symbolische Beschreibung einer Idee. Jemand, der diese Metapher mit Fakten verwechselt, macht einen gravierenden Denkfehler.

Ich hoffe, meine ausfuehrliche Erklaerung macht Sinn. Zurueck zu Deiner urspruenglichen Frage, ob es ausserhalb Wissenschaft also keine Wahrheit geben kann. Es gibt die Wahrheit selber NUR ausserhalb der Wissenschaft, aber es gibt ein gekonntes Unterscheiden zwischen Trugbild und Erkenntnis dieser Wahrheit nur in Zusammenarbeit mit der Wissenschaft oder durch das Benutzen wissenschaftlicher Methoden. Philosophie und religioese Visionen koennen uns inspirieren und uns innovative Ideen bringen, aber nur die wissenschaftliche Schweissarbeit hilft uns herauszufinden, welche dieser Ideen physikalische Representationen besitzen und welche davon einfach nur poetische Hirngespinste sind. Poetische Hirngespinste sind nicht unbedingt etwas Schlimmes, solange wir sie als solche erkennen. Sie koennen in Einzelfaellen sogar sehr inspirierend und hilfreich sein. Zum Beispiel die poetischen Hirngespinste der "Freiheit" oder der "Gleichberechtigung" sind kulturelle oder psychologische Erfindungen, die im grossen und ganzen der Gesellschaft, in der sie auftreten, oft eher von Nutzen als von Schaden sind (es sei denn, sie rutschen in ein ungesundes Extrem ab), denn sie ermutigen mehr Individuen, sich weiterzuentwickeln und kreativ und intelligent in die Gesamtgesellschaft mit einzubringen, was ja nun nichts Schlechtes ist, finde ich.
Die Frage ist wer bestimmt ob etwas schaedlich ist. Wir haben schoene Beispiele an die Rom. Katholische Kirche, der Islam isw. Wenn Die bestimmen duerfen, ODER der Wissenschaft, oder die Oeconomie, kann das kann ziemlich gefaerlich werden.
Das ist eine sehr tiefsinnige, wichtige, und schwierige Frage. Ein Problem beim Antworten ist die Tatsache, dass "Schaden" und "Wahrheit" beide situations- und kontextabhaengige Begriffe sind. Genaugenommen gibt es weder absoluten Schaden noch absolute Wahrheit. Ich persoenlich traue wissenschaftlich messbaren Definitionen (z.B. "Schaden" bedeutet, dass eine methodologisch robuste Studie nachweist, dass das Krebsrisiko aller Leute, die dieser Substanz ausgesetzt sind, um 20% hoeher ist) mehr als persoenlich geschmacksorientierten Definitionen (z.B. darueber nachzudenken ist mir unangenehm, deshalb gehe ich davon aus, das Gott so etwas nie wollte), insbesondere da Geschmack offensichtlich eine sehr persoenliche Sache ist.

Natuerlich ist nicht alles messbar. Insbesondere wenn es um multi-faktorielle Kausalzusammenhaenge (Ursache-Wirkung Zusammenhaenge mit mehreren Ursachen und/oder mehreren Wirkungen) geht, wird das Messen sehr schwierig. Manchmal ist unser Gefuehl alles, das uns momentan zum Entscheiden zur Verfuegung steht, aber in den Faellen, in denen Messbarkeit vorliegt, sollte diese Messbarkeit meiner Meinung nach das Gefuehl uebertrumpfen. Wenn ich statistisch beweisen kann, dass Adoptivkinder von Schwulen sich genauso normal und gesund entwickeln wie Adoptivkinder von heterosexuellen Paaren, dann gibt es fuer mich keinen guten Grund ersteres gesetzlich unmoeglich zu machen und letzteres zu foerdern (wie es hier in den U.S. manche Fundamentalchristen fordern, die sich an die schon lange wissenschaftlich widerlegte Furcht klammern, dass Homosexualitaet eine von den Eltern gelernte "Suende" sei), egal wie sehr die Bibel das vielleicht anders sieht. In dem Fall uebertrumpft die wissenschaftliche Erkenntnis die "Geschmackssache."

Idealerweise informiert sich unser Gewissen aus beidem, wissenschaftlichen Erkenntnissen (die sich natuerlich mit den Fakten, die wir haben und dem Stand unserer Forschungen immer wieder veraendern) und unseren irrationalen Gefuehlen. Wo die (Gefuehle und rationale Erkenntnisse) sich jedoch widersprechen, gibt es guten Grund, zumindest die Moeglichkeit in Betracht zu ziehen, dass wir uns hier vielleicht einfach nur an einer veralteten, irrationalen Furcht festklammern. Nicht immer vielleicht, aber oft.

Wie gesagt, eines der Probleme im Finden von allgemeinen Regeln des Nutzens und Schadens ist es, dass Schaden und Wahrheit relativ und situationsabhaengig sind. Was schaedliches Gift fuer eine Person in einer Situation ist, kann fuer eine andere Person in einer anderen Situation lebensrettende Medizin sein. Wenn ich nun Schaden moralistisch, mit katholischen oder anderen One-Size-Fits-All Regeln, meinem Dogma, definiere, dann werde ich diesen Feinheiten und Grauzonen oft nicht gerecht. Noch schlimmer, wenn ich so denke, dann kann mich meine vermeintliche moralische Sicherheit leicht in die Irre fuehren, mit manchmal fuerchterlichen Resultaten. So geschieht es ploetzlich dass Philosophien wie der Katholizismus oder der Islam, die mit einem gesunden Sinn fuer Mystizismus, Naechstenliebe, Bescheidenheit, und Weisheit anfingen, ploetzlich Schauerlichkeiten wie Kreuzzuege, Hexenverfolgung, Frauenverachtung, und Selbstmordattacken hervorbringen.

Egal, ob das nun eine Philosophie oder ein Bereich der Wissenschaft oder Oekonomie ist, absolutes authoritaeres Bestimmen dessen “was schaedlich ist und was nicht” ist immer problematisch. Das heisst nun aber keinesfalls, dass das Gegenteil, geistiger und geistlicher Totalrelativismus der Sorte “everything goes” weniger schaedlich waere. Im Zusammenleben mit anderen Leuten ist es wichtig, ein paar Regeln zu (er)finden, damit die Staerksten und Brutalsten nicht einfach machen, was sie wollen. Soziale Regelwerke koennen im Idealfall fuer uns alle hilfreich sein, denn sie machen Raum fuer Schwaechere, die vielleicht tolle Ideen und Perspektiven haben, aber in einer chaotischen Totalanarchie wahrscheinlich im Trubel einfach untergehen und nie gehoert werden wuerden. Idealerweise (mein eigenes, persoenliches Ideal, kein absolutes!) sind diese Regeln aber nicht “von Gott befohlen,” sondern von wissenschaftlichen Erkenntnissen dessen, was uns als Individuum und als Gruppe guttut, zumindest beeinflusst. Es ist schon Fortschritt, wenn wir wenigstens politisch darueber diskutieren anstatt uns einfach die Koeppe einzuhauen, aber waere es nicht noch schoener, wenn diese Diskussionen nicht nur ein Tauziehen zwischen individuellen Vorlieben waeren, sondern tatsaechlich unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse von der menschlichen Natur und Psychologie miteinbeziehen wuerden, auf eine Weise, die intelligent den groessten Gemeinschaftsnutzen und gleichzeitig die groesste persoenliche Freiheit bringen wuerde? Natuerlich gibt es immer Konflikte und damit Verhandlungen, aber es gibt auf jeden Fall kluegere und duemmere Regeln, und Wissenschaft, wenn weise betrieben, kann uns dabei helfen Klugheit von Dummheit zu unterscheiden. Daraus jedoch den Schluss zu ziehen, dass ich mir eine Scientificokratie mit Wissenschaftstyrannen wuensche, hiesse, mich vollkommen misszuverstehen (schon aufgrund der Gefahr obig erwaehnter Fachidioten).
Es ist gut moeglich, dass denjenigen, die dieses Buch fuer absolut bare Muenze halten, ohnehin nicht mehr zu helfen ist.
Kann natuerlich gut sein. Ich bin aber ein sturer Optimist, was Leute betrifft, und habe eine ganz besondere (neurotische?) Schwaeche fuer scheinbar hoffnungslose Faelle.

Meinungsfreudig
und stets voller Hoffnung,
:-) Julia

Edited, denn ich habe die dumme Angewohnheit, manchmal ganz sinnlos Kommas zu setzen, wo ich einfach nur eine kleine Atempaus mache, mit sehr verwirrenden Ergebnissen...

Locked