Hallo Gerard;
schoen, Dich kennenzulernen!
Meinst du, das es ausserhalb Wissenschaft also kein Wahrheit geben kann?
Nein, das obige Zitat spiegelt meine Meinung nicht wider. Den Wahrheitsanspruch, den manche (meiner Erfahrung nach wenige, und, wenn ueberhaupt, oft weniger talentierte) Wissenschaftler haben, halte ich fuer eine Form von Verblendung. Ist oft noch schlimmer mit "Pseudo"-Wissenschaftlern, Leute, die gerne mit Jargon um sich werfen aber keinen tatsaechlich wissenschaftlichen Hintergrund haben sondern nur gerne so tun--weiss nicht ob es das in Deutschland derzeit auch gibt, aber hier in den Staaten, speziell in Kalifornien, sehe ich das recht oft. Oder bissige Humanisten, die sich den arroganten Wissenschaftler gerne zum Strohmann/Daemon machen. Meiner Erfahrung nach sind die meisten intelligenten Wissenschaftler (wie in jedem Bereich gibt es auch hier Fachidioten) sich der Grenzen ihrer Werkzeuge bewusst. Denn das ist Wissenschaft: Ein Werkzeug.
Genauso koenntest Du (genauso inkorrekterweise) sagen, dass ein Hammer Wahrheit representiert. Ein Hammer an sich ist nur ein Werkzeug. Wenn ich den gekonnt schwinge und ein Haus damit baue oder ein genial weises und voll ueberzeugendes Gedicht in einen Stein meissele, dann kann der Hammer mich und andere vielleicht der "Wahrheit" ein bisschen naeherbringen. Aber er selbst ist nur wahr im Sinne dessen, das er physikalisch existiert. Wenn der Hammer missbraucht wird (zum Beispiel als Mordwaffe oder zum Vandalisieren), dann bringt er mehr Ignoranz. Wenn er hingegen weise genutzt wird, bringt er mehr Wahrheit. Es kommt auf den oder die an, der oder die ihn schwingt. Und manchmal gibt es schwierige Grauzonen, zum Beispiel Zerstoerung, die Raum fuer Neues macht, oder Tyrannenmord.
"Wissenschaft" als Werkzeug ist komplexer als ein Hammer, aber sie folgt dennoch aehnlichen logischen Regeln. Ich kann sie missbrauchen, wenn ich Dr. Mengele bin. Ich kann mit ihr Bedingungen schaffen, die der Weisheit und Wahrheit dienlich sind. Zum Beispiel, wenn ich durch agrikulturelle und medizinische Neuerungen den Ueberlebensdruck in manchen Gegenden etwas vermindere, haben die Leute dort mehr Energie, sich wichtigeren Lebensfragen zu widmen. Oder die extra Zeit und Energie mit dem Lesen von Dan Brown Romanen zu verschwenden...
Wissenschaft kann genaugenommen nicht Wahrheit finden, nur Falschheit Stueck fuer Stueck enthuellen. Je mehr Gegenargumente sich als unwahr herausstellen, desto vertrauenswuerdiger (aber nicht unbedingt "wahrer") wird mein Argument. Viele Nichtwissenschafter verstehen das nicht und sind verwirrt, mit dem Resultat, dass sie entweder uebermaessig wissenschaftsglaeubig sind oder Wissenschaft und Wissenschaftler zum Boesewicht in irgendeiner Verschwoerungstheorie machen.
Idealerweise arbeiten wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Methoden bei der Wahrheitsfindung (oder Falschheits-Widerlegung) kreativ zusammen. Unsere (vollkommen unwissenschaftliche) Kreativitaet und Intuition bringt uns vielleicht eine Idee. Wissenschaftsmethoden, wie zum Beispiel das (idealerweise doppelblinde und placebo-kontrollierte) Experiment, die Auswertung grosser Datenmengen mit statistischen Mitteln, und die Methode des "peer-review" (die eigenen Funde einem wissenschaftlichen Magazin mit Editoren, die in dem Fach geschult sind, vorlegen, so dass andere Wissenschaftler, die im selben Bereich arbeiten, diese bestaetigen, weiterspinnen, oder widerlegen koennen), helfen uns dann, Beweise fuer oder gegen diese Idee zu sammeln. Manche Ideen sind sehr schoen aber dennoch falsch. Wissenschaftliche Beweisfuehrung hilft uns, die Spreu vom Weizen zu trennen. Aber ohne die urspruengliche, voellig unwissenschaftliche Ausgangsidee haette der Wissenschaftler nichts zu forschen.
Durch die Natur der wissenschaftlichen Methoden koennen wir beweisen, dass etwas falsch ist. Aber anstatt Wahrheit finden wir immer nur statistische Annaeherung. Zum Beispiel, ein Ergebnis koennte so aussehen: "Mit 96% Wahrscheinlichkeit ist das Resultat nicht das Ergebnis von zufaelligen statistischen Schwankungen, sondern deutet auf einen tatsaechlichen Behandlungseffekt hin."
Viele dieser Studien zusammengenommen fuehren dann zu einem “Modell,” das wiederum nicht Wahrheit selber representiert, sondern nur meine Denkweise ueber den Zusammenhang, den es beschreibt, illustriert und mir damit erlaubt, mich mit anderen Wissenschaftlern (und/oder interessierten und informierten Laien, z.B. Wissenschaftsjournalisten) auszutauschen und diese Denkweise ueber die darauffolgenden Jahre, Jahrzehnte, oder sogar Jahrhunderte entweder zu verfeinern oder zu widerlegen. Es gibt Bereiche, in denen eine bestimmte Denkweise so vielfach belegt wurde, dass sie eine gewisse Authoritaet erworben hat, wie zum Beispiel die verfeinerten, heutigen Formen der Evolutionstheorie, die heutzutage nur noch von Christlichen Radikalfundis bezweifelt wird. Andere Modelle, wie zum Beispiel Atom-Modelle in der Chemie, scheinen einander zu widersprechen aber erklaeren einfach nur unterschiedliche Aspekte einer komplexeren Realitaet. Zum Beispiel Dalton's Atom-Modell erklaert manche Dinge, Bohr's Atom-Modell andere, Schroedinger's Atom-Modell wieder andere. Wenn wir ein Modell as "Wahrheit" missverstehen, dann ist es peinlich, wenn wir hier ploetzlich drei verschiedene Modelle vom gleichen Ding haben, die alle parallel (z.B. im Naturkundeunterricht) benutzt werden. Wenn wir diese drei Modelle jedoch nicht als absolute Wahrheiten sondern als Illustrationen der jeweiligen Ideen von Dalton, Bohr, und Schroedinger sehen, loest sich der Widerspruch auf. Denn anstatt einander zu bekaempfen, zeigen diese drei die gleiche, sehr viel komplexere Wahrheit einfach von drei verschiedenen, jeweils mehr (auf verschiedene Details) fokussierten Perspektiven.
Aehnlich denke ich auch ueber verschiedene Philosophien und Religionen. Alle beschreiben sie verschiedene, interessante Aspekte der sehr viel groesseren und sehr viel komplexeren Realitaet. In mystischen Zustaenden kriegen manche von uns einen etwas weiteren Einblick, der sich allerdings nur sehr klaeglich und unvollstaendig ins geschriebene Wort uebersetzen laesst. Fundamentalisten (egal ob nun Christlich, Islamisch, Marxistisch, oder Scientistisch), die der festen Ueberzeugung sind, ihr Denkmodell ist die einzige "Wahrheit," verstehen dass normalerweise nicht. Natuerlich gibt es auch Wissenschafts-Fundamentalisten und -Literalisten (Leute, die verwirrt alles Symbolische total woertlich nehmen), aber recht wenige, denn in den letzten Jahrzehnten hat sich die Wissenschaftsmethodik und -philosophie (oft am Radar der Allgemeinbevoelkerung und obig erwaehnter bissiger Humanistischer Philosophen vorbei) sehr interessant und effektiv weiterentwickelt. Deshalb waere ich immer sehr skeptisch, wenn ploetzlich jemand kommt und behauptet, die “mainstream”-Wissenschaftler verstehen ihn/sie nicht und er/sie hat die tatsaechliche Wahrheit. Es ist nicht total unmoeglich, dass solch eine vollkommene Neuentwicklung in voelliger Isolation, die etwas zeigt, was bis jetzt alle Anderen einfach uebersehen haben, tatsaechlich geschieht, aber (im Lichte der heutigen weiten Vernetzung verschiedener Forschungsbereiche) sehr, sehr unwahrscheinlich.
Ein wissenschaftliches Modell ist also keine Wahrheit, sondern eine METAPHER, die symbolische Beschreibung einer Idee. Jemand, der diese Metapher mit Fakten verwechselt, macht einen gravierenden Denkfehler.
Ich hoffe, meine ausfuehrliche Erklaerung macht Sinn. Zurueck zu Deiner urspruenglichen Frage, ob es ausserhalb Wissenschaft also keine Wahrheit geben kann. Es gibt die Wahrheit selber NUR ausserhalb der Wissenschaft, aber es gibt ein
gekonntes Unterscheiden zwischen Trugbild und Erkenntnis dieser Wahrheit nur in Zusammenarbeit mit der Wissenschaft oder durch das Benutzen wissenschaftlicher Methoden. Philosophie und religioese Visionen koennen uns inspirieren und uns innovative Ideen bringen, aber nur die wissenschaftliche Schweissarbeit hilft uns herauszufinden, welche dieser Ideen physikalische Representationen besitzen und welche davon einfach nur poetische Hirngespinste sind. Poetische Hirngespinste sind nicht unbedingt etwas Schlimmes, solange wir sie als solche erkennen. Sie koennen in Einzelfaellen sogar sehr inspirierend und hilfreich sein. Zum Beispiel die poetischen Hirngespinste der "Freiheit" oder der "Gleichberechtigung" sind kulturelle oder psychologische Erfindungen, die im grossen und ganzen der Gesellschaft, in der sie auftreten, oft eher von Nutzen als von Schaden sind (es sei denn, sie rutschen in ein ungesundes Extrem ab), denn sie ermutigen mehr Individuen, sich weiterzuentwickeln und kreativ und intelligent in die Gesamtgesellschaft mit einzubringen, was ja nun nichts Schlechtes ist, finde ich.
Die Frage ist wer bestimmt ob etwas schaedlich ist. Wir haben schoene Beispiele an die Rom. Katholische Kirche, der Islam isw. Wenn Die bestimmen duerfen, ODER der Wissenschaft, oder die Oeconomie, kann das kann ziemlich gefaerlich werden.
Das ist eine sehr tiefsinnige, wichtige, und schwierige Frage. Ein Problem beim Antworten ist die Tatsache, dass "Schaden" und "Wahrheit" beide situations- und kontextabhaengige Begriffe sind. Genaugenommen gibt es weder absoluten Schaden noch absolute Wahrheit. Ich persoenlich traue wissenschaftlich messbaren Definitionen (z.B. "Schaden" bedeutet, dass eine methodologisch robuste Studie nachweist, dass das Krebsrisiko aller Leute, die dieser Substanz ausgesetzt sind, um 20% hoeher ist) mehr als persoenlich geschmacksorientierten Definitionen (z.B. darueber nachzudenken ist mir unangenehm, deshalb gehe ich davon aus, das Gott so etwas nie wollte), insbesondere da Geschmack offensichtlich eine sehr persoenliche Sache ist.
Natuerlich ist nicht alles messbar. Insbesondere wenn es um multi-faktorielle Kausalzusammenhaenge (Ursache-Wirkung Zusammenhaenge mit mehreren Ursachen und/oder mehreren Wirkungen) geht, wird das Messen sehr schwierig. Manchmal ist unser Gefuehl alles, das uns momentan zum Entscheiden zur Verfuegung steht, aber in den Faellen, in denen Messbarkeit vorliegt, sollte diese Messbarkeit meiner Meinung nach das Gefuehl uebertrumpfen. Wenn ich statistisch beweisen kann, dass Adoptivkinder von Schwulen sich genauso normal und gesund entwickeln wie Adoptivkinder von heterosexuellen Paaren, dann gibt es fuer mich keinen guten Grund ersteres gesetzlich unmoeglich zu machen und letzteres zu foerdern (wie es hier in den U.S. manche Fundamentalchristen fordern, die sich an die schon lange wissenschaftlich widerlegte Furcht klammern, dass Homosexualitaet eine von den Eltern gelernte "Suende" sei), egal wie sehr die Bibel das vielleicht anders sieht. In dem Fall uebertrumpft die wissenschaftliche Erkenntnis die "Geschmackssache."
Idealerweise informiert sich unser Gewissen aus beidem, wissenschaftlichen Erkenntnissen (die sich natuerlich mit den Fakten, die wir haben und dem Stand unserer Forschungen immer wieder veraendern) und unseren irrationalen Gefuehlen. Wo die (Gefuehle und rationale Erkenntnisse) sich jedoch widersprechen, gibt es guten Grund, zumindest die Moeglichkeit in Betracht zu ziehen, dass wir uns hier vielleicht einfach nur an einer veralteten, irrationalen Furcht festklammern. Nicht immer vielleicht, aber oft.
Wie gesagt, eines der Probleme im Finden von allgemeinen Regeln des Nutzens und Schadens ist es, dass Schaden und Wahrheit relativ und situationsabhaengig sind. Was schaedliches Gift fuer eine Person in einer Situation ist, kann fuer eine andere Person in einer anderen Situation lebensrettende Medizin sein. Wenn ich nun Schaden moralistisch, mit katholischen oder anderen One-Size-Fits-All Regeln, meinem Dogma, definiere, dann werde ich diesen Feinheiten und Grauzonen oft nicht gerecht. Noch schlimmer, wenn ich so denke, dann kann mich meine vermeintliche moralische Sicherheit leicht in die Irre fuehren, mit manchmal fuerchterlichen Resultaten. So geschieht es ploetzlich dass Philosophien wie der Katholizismus oder der Islam, die mit einem gesunden Sinn fuer Mystizismus, Naechstenliebe, Bescheidenheit, und Weisheit anfingen, ploetzlich Schauerlichkeiten wie Kreuzzuege, Hexenverfolgung, Frauenverachtung, und Selbstmordattacken hervorbringen.
Egal, ob das nun eine Philosophie oder ein Bereich der Wissenschaft oder Oekonomie ist,
absolutes authoritaeres Bestimmen dessen “was schaedlich ist und was nicht” ist immer problematisch. Das heisst nun aber keinesfalls, dass das Gegenteil, geistiger und geistlicher Totalrelativismus der Sorte “everything goes” weniger schaedlich waere. Im Zusammenleben mit anderen Leuten ist es wichtig, ein paar Regeln zu (er)finden, damit die Staerksten und Brutalsten nicht einfach machen, was sie wollen. Soziale Regelwerke koennen im Idealfall fuer uns alle hilfreich sein, denn sie machen Raum fuer Schwaechere, die vielleicht tolle Ideen und Perspektiven haben, aber in einer chaotischen Totalanarchie wahrscheinlich im Trubel einfach untergehen und nie gehoert werden wuerden. Idealerweise (mein eigenes, persoenliches Ideal, kein absolutes!) sind diese Regeln aber nicht “von Gott befohlen,” sondern von wissenschaftlichen Erkenntnissen dessen, was uns als Individuum und als Gruppe guttut, zumindest beeinflusst. Es ist schon Fortschritt, wenn wir wenigstens politisch darueber diskutieren anstatt uns einfach die Koeppe einzuhauen, aber waere es nicht noch schoener, wenn diese Diskussionen nicht nur ein Tauziehen zwischen individuellen Vorlieben waeren, sondern tatsaechlich unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse von der menschlichen Natur und Psychologie miteinbeziehen wuerden, auf eine Weise, die intelligent den groessten Gemeinschaftsnutzen und gleichzeitig die groesste persoenliche Freiheit bringen wuerde? Natuerlich gibt es immer Konflikte und damit Verhandlungen, aber es gibt auf jeden Fall kluegere und duemmere Regeln, und Wissenschaft, wenn weise betrieben, kann uns dabei helfen Klugheit von Dummheit zu unterscheiden. Daraus jedoch den Schluss zu ziehen, dass ich mir eine Scientificokratie mit Wissenschaftstyrannen wuensche, hiesse, mich vollkommen misszuverstehen (schon aufgrund der Gefahr obig erwaehnter Fachidioten).
Es ist gut moeglich, dass denjenigen, die dieses Buch fuer absolut bare Muenze halten, ohnehin nicht mehr zu helfen ist.
Kann natuerlich gut sein. Ich bin aber ein sturer Optimist, was Leute betrifft, und habe eine ganz besondere (neurotische?) Schwaeche fuer scheinbar hoffnungslose Faelle.
Meinungsfreudig
und stets voller Hoffnung,
Julia
Edited, denn ich habe die dumme Angewohnheit, manchmal ganz sinnlos Kommas zu setzen, wo ich einfach nur eine kleine Atempaus mache, mit sehr verwirrenden Ergebnissen...