Campbells Gesellschaftskritik

Wisst Ihr mehr über Mythologie, Philosophie, Religionen, Symbole, Mystik, Joseph Campbell etc., als Ihr in englischer Sprache ausdrücken könnt? Oder interessieren euch Themen, die speziell für den deutschen Sprachraum relevant sind? Für Beides ist das deutschsprachige Diskussionsforum der richtige Ort!

Moderator: Martin_Weyers

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Harlekin
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Post by Harlekin »

Hallo,

zuerst noch danke für die Kritiken auch wenn es schon eine Weile her ist.

Ich habe ein Problem mit Campbells Gesellschaftskritik am Ende seines "Heros in tausend Gestalten". Er spricht dort von einer Umstrukturierung der Gesellschaftsordnung, indem jede Handlung dazu beiträgt, den universellen Gottmenschen zu erschließen bzw.die göttliche Signatur wiederzuerkennen. Aber was bedeutet das denn im Endeffekt? Etwa, daß wir zum Kosmos der Symbole zurückkehren und jeglichem materiellen Fortschrittsdenken abschwören? Wäre das nicht eigentlich ein Rückschritt? Irgendwie ist das doch eine etwas naive Herangehensweise.
Freue mich über Kommentare.

Gerard
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Post by Gerard »

Hallo Harlekin.

Kannst du genauer sagen wo das steht? Ich moechte den Kontext dieses Zitat gern auch lesen.

Ich verstehe dein Problem schon. Symbole: das kann jeder 'reintun' was er (Indivuduell) darin sieht oder liegen will. Der Swastika zb hatte frueher eine ganz andere Bedeutung als heute.

Ich werde uebrigens nervoeser wenn ich lese: 'Umstrukturieren der Ordnung der Gesellschaft'. Habe schlechte Erfahrungen mit Leute 'Ordnungen der Gesellschaft umstrukturieren' wollen. Meist ist da das Ego ziemlich vorne. Glaube Gesellschaftsaenderer und Spirituellen sollen sich ferne von einander halten. Sie reden ueber unterschiedliche 'Reichen' und unterschiedliche 'Reich' tuemer.

Uebrigens kann ich mir nicht vorstellen das JC gemeint hat das es kein 'Fortschritt' mehr geben soll auf das von dir genennte Thema. Glaube eher das er gemeint hat das es zuweit damit gegangen ist und das es sich gegen uns kehrt.

Aber....vielleicht ist sogar der Archetyp vom Helden 'schuld' daran? Gibt es ein Alternativ, ein anderes Leitmotiv (schoenes Deutsches Wort), zb. der Weise? Ein Weibliches vielleicht?

Martin meint (wenn ichs recht verstanden habe) das der Held eine Art Meta-Archetype ist. Ist das das einzige Meta-Archetyp?

Ausserdem versteh ich nicht genau die Grenzen vom Helden einerseits im vergleich mit zb. der Martyrer (Prinzessin Diana? Jezus?) oder der zb. Krieger (Napoleon) andererseits.

Ist der/die Held/In veilleicht nur ein Held wenn er/sie eine Geistliche Spirituelle Reise macht? Wenns um eine Innerliche Reise geht?

_________________

....and her laughter was pure delight and mischief: 'This, Enki, you will never find out!'

<font size=-1>[ This Message was edited by: Gerard on 2005-09-19 14:17 ]</font>

Martin_Weyers
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Post by Martin_Weyers »

Hallo Harlekin & Enki,

ich vermute, Harlekin meint den folgenden Abschnitt des letzten Kapitels aus Der Heros in tausend Gestalten. Übrigens ist das Buch lieferbar als Taschenbuch im Insel Verlag, dort S. 370-372. (Wenn ich schon notgededrungen so ausführlich zitiere, möchte ich fairerweise wenigstens auf Buch und Verlag hinweisen!)

Das demokratische Ideal des sich selbst bestimmenden Individuums, die Erfindung der Dampfmaschine und des Motors, die Ausbildung der naturwissenschaftlichen Forschungsmethode haben das Leben so einschneidend verändert, daß der uralte, zeitlose Kosmos der Symbole einstürzen mußte. Nietzsches Zarathustra sprach es aus in den schicksalsschweren, von der kommenden Epoche widerhallenden
Worten: »Tot sind alle Götter.« Jeder kennt den Hergang. In der verschiedensten Weise ist er dargestellt worden, ein Heldenzyklus der Neuzeit, ein Märchen vom Mündigwerden der Menschheit. Wohlgezielte, mächtige Schläge trafen die Fesseln der Tradition, den Bann der Vergangenheit. Das Traumgespinst des Mythos zerfiel, der Geist erwachte zu vollem Bewußtsein, und wie ein Schmetterling aus der Puppe oder die aufgehende Sonne aus dem Schoß der mütterlichen Nacht erhob sich aus dem alten Aberglauben der moderne Mensch.

Nicht nur haben die forschenden Augen der Teleskope und Mikroskope den Göttern keinen Schlupfwinkel gelassen: auch die Gesellschaft, wie sie einst sich von den Göttern tragen ließ, existiert nicht mehr. Aus dem Substrat religiöser Gehalte, das sie einst war, wurde eine ökonomisch-politische Organisation. Deren Ideale sind nicht mehr die der hieratischen Pantomime, die auf Erden die Formen des Himmels darstellt, sondern die des diesseitigen Staates, der harten und unnachgiebigen Konkurrenz um materielle Vorherrschaft und Ressourcen. Sofern in sich geschlossene, in einem mythisch geladenen Horizont befangene Gesellschaftsgebilde sich noch erhalten haben, sind sie zu Ausbeutungsobjekten geworden, und in den fortschrittlichen stehen auch die letzten Spuren des rituellen, sittlichen und künstlerischen Erbes der Menschheit vor dem Verlöschen.

Deshalb aber ist das Problem, das sich der Menschheit heute stellt, genau entgegengesetzt dem der Menschen, die in den vergleichsweise stabilen Perioden der jetzt entlarvten/ mythischen Integration lebten. Lag bei ihnen aller Sinn im Kollektiv, in den großen anonymen Formen und nicht im mündigen Individuum, so ist heute das Kollektiv wie die Welt überhaupt jeden Sinnes bar, und alles ist im Individuum. Dort aber ist er ganz unbewußt: es weiß nicht, wohin es geht, es weiß nicht, wodurch es getrieben wird. Alle Verbindungsfäden zwischen den bewußten und den unbewußten Bereichen Menschenseele sind durchschnitten: wir sind in zwei Hälften zersprungen.

Die Tat, die heute entscheidend wäre, ist nicht die gleiche wie die, die das Jahrhundert Galileis forderte. Wo damals Finsternis war, ist heute Licht, ebenso aber ist heute Finsternis, wo damals Licht war. Heute geht es darum, das verlorene Atlantis der unzerspaltenen Seele wieder ans Licht zu bringen.

Offenbar kann das weder geschehen durch einen Rückfall hinter die Errungenschaften der modernen Revolution noch durch eine bloße Abwendung von ihr. Das Problem besteht vielmehr genau darin, die moderne Welt mit einem Sinn zu versehen, der den Geist befriedigt, oder, um das gleiche Prinzip von der anderen Seite her zu formulieren, genau darin, allen Menschen, Männern wie Frauen, die Möglichkeit zu geben, durch die Lebensbedingungen in unserer Welt hindurch die volle Reife der Menschlichkeit zu erlangen. Diese Bedingungen aber haben die alten Formeln fruchtlos, irreführend, sogar gefährlich gemacht. Die Gemeinschaft von heute umfaßt den ganzen Planeten, nicht einzelne Völker, und deshalb würde das Schema nach außen projizierter Aggression, das einst die Gruppen nach innen integrierte, heute nur noch Selbstzerfleischung bedeuten. Die Idee der Nation, mit der Flagge als Totem, bläht heute das infantile Ich eher auf, als daß sie es zergehen ließe. Ihre Pseudorituale auf den Paradeplätzen dienen den Interessen des Haltefest, des tyrannischen Drachens, nicht dem Gott, in dem der Egoismus sich auflöst; und die zahlreichen Heiligen dieses |Antikultus - die Patrioten, deren Photos, flaggengeschmückt, als seine Ikone allgegenwärtig geworden sind genau die Wächterfiguren, die die Schwelle der Gruppenlokalität hüten und die zu passieren das erste Problem des Abenteuers ist.
Ebensowenig können die großen Weltreligionen, wie sie heute verstanden werden - nämlich assoziiert mit partikularen Interessen, als deren Propaganda und Selbstverherrlichung -, der Anforderung genügen. (Unter dem Einfluß des Westens hat auch der Buddhismus letzthin diese Degradation erfahren.) Der universale Triumph des weltlichen Staates hat alle religiösen Organisationen in eine so endgültig zweitrangige und ohnmächtige Position gedrängt, daß der Kultus heute kaum mehr ist als ein frömmelndes Schauspiel, für das der Sonntagmorgen reserviert ist, während die übrige Woche im Zeichen der Geschäftsordnung und des nationalen Chauvinismus steht. Solch heuchlerische Bigotterie ist es nicht, wessen eine intakte Welt bedürfte. Nötig wäre vielmehr eine Verwandlung der gesamten Gesellschaftsordnung, so daß jede Handlung und jede Einzelheit des weltlichen Lebens dazu beitrüge, das belebende Bild des universellen Gottmenschen, der in uns allen wohnt und wirkt, dem Bewußtsein zu erschließen.

Das aber kann nicht Sache des Bewußtseins selber sein. Ein trächtigeres Symbol erfinden oder auch nur ankündigen kann das Bewusstsein ebensowenig, wie es die Träume der nächsten Nacht vorhersagen oder kontrollieren kann.
Ich habe mir die Freiheit genommen, den letzten Absatz fett zu setzen, weil sich Harlekin vermutlich vor allem darauf bezieht.

Der Absatz mag gesellschaftskritische Elemente enthalten, dann etwa, wenn Campbell (aber eben auch nur indirekt, nicht in Form einer Anklage!) gegen die heutigen Ansprüche von Nationalismus und Weltkirchen wettert.

Er beschreibt einfach die heutige zeitgeschichtliche Situation so wie sie ist, oder so wie sie von ihm gesehen wird. Und versucht, Auswege aufzuzeigen, die aber, wie Campbell betont, weder in einem fortschrittsfeindlichen Rückfall in die Mythologie vergangener Zeitalter, noch in revolutionären politischen Programmen bestehen kann. Campbell sieht die Möglichkeiten unserer Zeit vielmehr in dem Erforschen unserer Innenwelten, und einem daraus resultierenden authentischen Handeln, eben: Follow your bliss!

Works of art are indeed always products of having been in danger, of having gone to the very end in an experience, to where man can go no further. -- Rainer Maria Rilke

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