Hiob, Popper, McKenna: was ist die Wahrheit?

Wisst Ihr mehr über Mythologie, Philosophie, Religionen, Symbole, Mystik, Joseph Campbell etc., als Ihr in englischer Sprache ausdrücken könnt? Oder interessieren euch Themen, die speziell für den deutschen Sprachraum relevant sind? Für Beides ist das deutschsprachige Diskussionsforum der richtige Ort!

Moderator: Martin_Weyers

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Gerard
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Hiob, Popper, McKenna: was ist die Wahrheit?

Post by Gerard »

Die letzten Tage fallen bei mir ein paar Sachen zusammen.

Vor genau 10 Jahren war ich an einem Tiefpunkt meines Lebens. So ungefehr alles verloren was mir wichtig war. Ich fuehlte mich wie Hiob auf dem Misthaufen (meines Lebens). Nach 2 sehr schweren Jahren war ich wieder oben auf und jetzt geht es mir wieder gut: eine neue Existenz. Obwohl ich ziemlich gut analysieren kann, weiss (wusste) ich im Grunde noch immer nicht was mich letztendlich hat 'ueberleben' lassen. Obwohl das Thema Spannkraft / Ueberlebungs-'eigenschaften' mich sehr fasziniert. (Uebrigens hat Campbell sehr sehr tiefe Sachen gesagt ueber Hiob.)

In Holland waren die letzen Tage ( 4 und 5 Mai) wieder Tag der Gefallenen und Befreiungstag. Das erinnert mich an was im 'Kamp Amersfoort' (Durchgangslager) beim Eingang auf einem Stein geschrieben ist:
" Deze plek / een les uit het verleden / een open toekomst / een plicht tot optimisme '' (Diese Stelle / eine Lektion aus der Vergangenheit / eine offene Zukunft / eine Verpflichtung zu Optimismus.)

Das ist eine Aussage von Karl Popper, glaube ich. (Obwohl ich die Pflicht zu Optimismus nicht als moralische, sondern als spirituelle 'pflicht' sehe).

Im Moment lese ich ein faszinierendes Buch von ein gewisser (nicht existierender) Jed McKenna. Hollaendischer Titel: 'Spirituele Verlichting? Vergeet het maar!". English: "Spiritual Enlightenment, the damnedest thing." (Ist es bei auch auch bekannt?) McKenna sagt darin u.a.: das Einzige ist Wahrheit. Was Wahrheit fuer Jemand ist, weiss der erst wenn er im schwarzesten Loch vom Nichts geschaut hat. Wenn man von alle Illusionen wovon man dachte das es die Wirklichkeit war, beraubt ist. Das ist die Wahrheit.

Also wenn ich dass alles zusammen nehme und mich, 10 jahre nach mein Hiob-erfahrung, nochmal die Frahe stelle: 'Was laesst einem Ueberleben?' Was ist die Wahrheit? Dann ist fuer mich die Antwort: Optimismus. Nichts mehr, nichts weniger. Ist es so einfach?

Meine Frage an euch ist: habt ihr auch 'Hiob-erlebnisse' gehabt und/oder was meint ihr was es ist was ein Mensch (ueber) leben laesst? Sowohl existentiell als spirituell. Was ist fuer euch 'Wahrheit'?
Sisyphus Laughs

Gerard
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Ist es das?
Sisyphus Laughs

SiCollier
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Post by SiCollier »

Ja, das müßte das Buch in der deutschen Ausgabe sein (ISBN 395219669X).

Nun, Hiob-Erlebnisse hatte ich auch schon; ich denke, zwei auch zeitlich recht eng beieinanderliegende Ereignisse in meinem Leben verdienen diesen Titel.

Was einen so was überleben läßt - schwierig. Optimismus hatte ich damals jedenfalls keinen, das ist sicher.

Über Deine Definition von Wahrheit muß ich erst mal in Ruhe nachdenken. Eine Antwort scheint doch nicht so einfach zu sein, wie ich erst dachte.
"The most convincing proof for the existance of water ist thurst." Franz von Baader (1765-1841)

spinning girl
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Post by spinning girl »

Ich versuche mein Deutsch zu üben, also bitte ein bisschen Gnade für Sprach Fehler...

Wenn man nichts mehr verlieren kann, wenn alles was man dachte unser Leben war nicht mehr da ist, dann kann man wieder anfangen, von neuem, vielleicht ohne Hoffnung aber auch ohne Erwartungen...und dann kann das Leben uns wieder schenken, mit all dem was bedeutend ist ( vielleicht sind wir wieder bereit es wahrzunehmen).

Für mich Wahrheit ist dass, was in einem selten, sponntanen Augenblick von meiner tiefsten Seele entspringt, und in perfekter Resonanz mit mir ist. Es muss nicht immer Razionäl sein, oder Wissenschaftlich erklärbar sein. Es ist es auch nicht wichtig ob jemand mit mir übereinstimmt oder nicht, und so ist es gut.

Wieso kann ich all das so einfach sagen? Lässt sich nicht so überlegt oder sachlich vorlesen. Vielleicht weil ich selbst am Ende eines meiner Löcher bin, sozusagen frische Erfahrung...
Spinning girl, she spins wool, to knit a warm sweater, or weave a colorful blanket.

Gerard
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Post by Gerard »

SiCollier wrote:Ja, das müßte das Buch in der deutschen Ausgabe sein (ISBN 395219669X).

Was einen so was überleben läßt - schwierig. Optimismus hatte ich damals jedenfalls keinen, das ist sicher.
Ich verstehe schon was du meinst SiCollier. Wenn man Schlag auf Schlag bekommt, ist Optimismus nicht gerade das was.... Was mich betrifft war es in diesen Momenten glaube ich schon wie Hiob es hatte: da sitzen und alles kommen lassen. Es bleibt nicht viel Anderes uebrig, denn man hat einfach keine Kontrolle mehr ueber das was passiert, wenn alles was dir lieb ist und war um dich einstuerzt und nicht mehr da ist. Alles was man als Wahrheit sah, ist auf einmal nicht nur nicht mehr da, aber auch nicht mehr wahr. Menschbild, Weltbild, Gesellschaftsbild, Gottesbild - alles bricht zusammen. Was ich behalten hab koennen war, trotz allem, mein Selbstbild und Selbstachtung. Aber mein Gott - war das schwierig. Ich glaube die erste Aufgabe in solche Momente ist 'einfach' zu akzeptieren dass das Leben nun mal Verlust mit sich bringt, auch Verlust von was man dachte nie zu verlieren. Ich habe gelernt: Panta Rhei. Nichts, aber auch nichts, steht fest.

Mit 'Optimismus' hab ich nicht gemeint, das was einer sich 'bedenken' sollte in solchen Momenten, aber nachher, wenn das Schlimmste vorbei ist - und man ueberschaut die Truemmer hinter sich.

Dann hat man im Grunde keine andere Wahl mehr als mit Optimismus weiter zu gehen. Das Leben soll gelebt werden. Und man hat die Wahl ob man in einem Essigbad weiter leben will oder in einem warmen Bad (auch wenn das Wasser auch dann mal wieder kalt werden kann).
Sisyphus Laughs

somehopesnoregrets
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Post by somehopesnoregrets »

Was mich betrifft war es in diesen Momenten glaube ich schon wie Hiob es hatte: da sitzen und alles kommen lassen. Es bleibt nicht viel Anderes uebrig, denn man hat einfach keine Kontrolle mehr ueber das was passiert, wenn alles was dir lieb ist und war um dich einstuerzt und nicht mehr da ist.
Genau. Meiner Ansicht nach kommt der Optimismus vom sich dem Leben Hingeben. Es ist fuer Menschen sehr natuerlich, der Illusion zu verfallen, dass wir unser Schicksal kontrollieren koennen. Meiner Erfahrung nach ist das aber ein Aberglaube. Wir haben Momente von Kontrolle, die sich mit Momenten von Kontrollverlust abwechseln. Und umgekehrt. Illusionen von grenzenloser Kontrolle werden immer irgendwann enttaeuscht werden, und das oft schmerzhaft. Die Hingabe, die uebrig bleibt, wenn uns das Leben alles zerschmettert, ist ein mit dem Leben Mitgehen, dass Fluss-Erlebnisse erst moeglich macht. Ploetzlich verschiebt sich Dir die Perspektive, und neue Gelegenheiten und Moeglichkeiten oeffnen sich, fuer die ansonsten in einem mit Routine und Gewohnheiten gefuellten Leben kein Platz gewesen waere. Eine Art seelisches und psychologisches Grossreinemachen. Illusionen verlieren ist schmerzhaft, aber ein wichtiger Reifungsprozess. Zumindest scheint mir das so. Kann natuerlich auch sein, dass ich mir gemeinsam mit Aesop's Fuchs die unerreichbaren Trauben einfach als "sauer" rationalisiere.

Oder, eine andere, zynischere Antwort: die Optimisten sind die Ex-Hiobs, die zu stur sind um sich aus Verzweiflung umzubringen. So eine Art darwinistische Selektion, in der die pessimistischen Hiobs sich selber zum Opfer fallen und die konstitutionell eher optimistischeren Hiobs (oder die neugierigeren, siehe unten) uebrig bleiben.

Die Frage, was uns so etwas ueberleben laesst, interessiert mich auch. Und genauer, was ist der Unterschied zwischen Leuten, die an solchen Erlebnissen verbittern im Gegensatz zu Leuten, die daran wachsen? Mir sind Leute begegnet, denen Schlimmes zustoss und die koerperlich ueberlebten aber seelisch tot sind, nichts mehr an sich heranlassen, aus dem Versuch heraus, sich vor weiteren Verwundungen durch eine psychologische Mauer um jeden Preis zu schuetzen. Dann, seltener, begegnet mir eine(r) die/der aus der Menge heraussticht, mit geistiger Schaerfe, einem Sinn fuer Galgenhumor, liebevoller Offenheit, Mut zur Verwundtbarkeit, und Vertrauen in die eigene Ueberlebens- und Wachstumskraft. Und, wann auch immer ich mehr ueber diese Sorte Person herausfinde, stellt sich heraus, dass da irgendwann einmal in der Vergangenheit das Schicksal hart zugeschlagen und dieser Person die betauebenden Lebensillusionen geraubt hat.

Ich frage mich was der Unterschied ist, zwischen diesen so extrem unterschiedlichen Langzeitwirkungen. Der/die eine steckt fest in der Vergangenheit und guckt sich in der Erinnerung in einer Art Endlosschleife immer wieder an, was er/sie verloren hat. Der/die andere schreitet mutig weiter, durch die schwelenden Ruinen dessen was man sich einst als "Leben" und "Glueck" definiert hatte.

Meine persoenliche Antwort, was mich selber weitermachen lies in den Zeiten in denen alles zerbrach und ich mich ganz und gar am Ende fuehlte? Fuer mich war das Neugier eher als Optimismus. Ich kann es nicht ab, ein Buch nicht zu Ende zu lesen, selbst wenn es ein Buch ist, das mir aus irgendeinem Grund nicht gefaellt, denn ich moechte immer so gerne wissen, wie es denn nun weitergeht, was auf der naechsten Seite passiert. Das Gleiche passierte mir in meinen tiefsten Lebenspunkten. Was war wohl auf der naechsten Seite? Am naechsten Tag? In der naechsten Woche? Im naechsten Jahr? Was fuer eine Person wuerde ich in zehn Jahren sein? Und so fort. Das Interessante, wenn die Illusionen intakt sind, dann scheint der Lebensweg recht eindeutig (und oft fast schon wieder langweilig) vorgezeichnet. Aber wenn einem alles, das man fuer echt und wahr und sicher hielt, gerade im Gesicht explodiert ist, dann kann als Naechstes eigentlich alles passieren, und das macht es schon wieder interessant (wenn ich es schaffe, aus meinem Selbstmitleidsloch zu kriechen).

Das Problem, dass ich mit dem "Optimismus," wie der normalerweise oft definiert wird, habe, ist das der eigentlich schon wieder eine (eben positive) Erwartung ist. Also, schon wieder wird der komplett offene Blick zugunsten einer Idee eingeschraenkt, waehrend die einfache Neugier darauf, was wohl jetzt als naechstes geschehen wird, einem den Blick momentan ganz offen und erwartungsfrei laesst. Wenigstens fuer eine Weile. Dann kriechen sich die Erwartungen, Vorurteile, und festen Ideen wieder ans Ich heran und der offene Blick wird wieder eingeschraenkter. Bis zur naechsten Katastrophe, oder bis man lernt, in der Meditation oder koerperlichen Bewusstheitsuebungen, wie dem Yoga oder gewissen anderen Techniken, den offenen, erwartungs-geminderten Blick bewusst zu ueben.

Alles Gute,
:-) Julia

Korrigiert, um das Folgende hinzuzufuegen:

Ach so, was die "Wahrheit" betrifft: Meiner Meinung nach steckt die echte Wahrheit, die Sorte Wahrheit die ueber's Buchwissen hinausgeht und echte Weisheit katalysiert, immer im bewussten Erleben des Hier und Jetzt, des gegenwaertigen Momentes. Da die Natur des gegenwaertigen Momentes sich jeden Moment aendert, gibt es keinen permanent wahren Inhalt, aber eine Perspektive der momentanen Wahrheitsfindung. Je mehr wir mit uns selber im Reinen sind, desto weniger widerspruechlich werden unsere verschiedenen momentanen Wahrheiten. Jeder Versuch jedoch, aus der Vergangenheit eine Form von absoluter Wahrheit herauszudistillieren, die sich auch in der eigenen Zukunft und im Leben anderer Leute immer zuverlaessig bewaehren wird, ist eine Form von Dogma, im Einzelfall oft mehr oder weniger hilfreich, aber, wenn nicht als solches erkannt, oft schaedlich. Das Interessante an Hiobs-Botschaften und -Erlebnissen ist, dass der mit ihnen verbundene Schmerz sich nur durch eine Moment-fuer-Moment Perspektive ueberleben laesst. Deshalb erweisen sie sich oft als so lehrreich und weisheitsfoerdernd.

Die oben erwaehnte demuetige Hingabe zum mit dem gegenwaertigen Moment praesent sein (die im krassen Gegensatz steht zum die Vergangenheit wie eine Erzmine ausnutzen oder die Zukunft zu meinen Gunsten beeinflussen wollen) erfordert Uebung. Sie ist meiner Ansicht auch die einzige Form von echter (nicht-institutioneller) Religioesitaet (im Gegensatz zu der aufgesetzten, letztendlich falschen Froemmigkeit so vieler organisierter Religionsteilhaber, von denen viele gerne so tun als ob, weil es eben so von ihnen erwartet wird).

SiCollier
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somehopesnoregrets
Die Frage, was uns so etwas ueberleben laesst, interessiert mich auch. Und genauer, was ist der Unterschied zwischen Leuten, die an solchen Erlebnissen verbittern im Gegensatz zu Leuten, die daran wachsen?
Ich habe mir diesen Thread nochmals durchgelesen, die Frage ist in der Tat interessant. Allerdings: beantworten kann ich sie nicht. Wenn ich an meine eigenen „Hiob-Situationen“ denke, so weiß ich nur eines: es gab da weder Neugier, noch Hoffnung, noch Optimismus. Einfach nur ein Abwarten, was als nächstes geschehen würde.

Ich kam wieder auf das Thema, weil ich in einem Buch im Hinblick auf das Schicksal (eines Volkes) gerade den Satz: Ich verstehe es nicht, aber ich weiß es. gelesen habe.

somehopesnoregrets
Meiner Meinung nach steckt die echte Wahrheit, die Sorte Wahrheit die ueber's Buchwissen hinausgeht und echte Weisheit katalysiert, immer im bewussten Erleben des Hier und Jetzt, des gegenwaertigen Momentes. Da die Natur des gegenwaertigen Momentes sich jeden Moment aendert, gibt es keinen permanent wahren Inhalt, aber eine Perspektive der momentanen Wahrheitsfindung. Je mehr wir mit uns selber im Reinen sind, desto weniger widerspruechlich werden unsere verschiedenen momentanen Wahrheiten. Jeder Versuch jedoch, aus der Vergangenheit eine Form von absoluter Wahrheit herauszudistillieren, die sich auch in der eigenen Zukunft und im Leben anderer Leute immer zuverlaessig bewaehren wird, ist eine Form von Dogma, im Einzelfall oft mehr oder weniger hilfreich, aber, wenn nicht als solches erkannt, oft schaedlich.
Hm, ein sehr interessanter Gedankengang. So „fließend“ habe ich das noch nie gesehen, da ist wohl was dran.
"The most convincing proof for the existance of water ist thurst." Franz von Baader (1765-1841)

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