Das bist Du - Historizität im Christentum

Wisst Ihr mehr über Mythologie, Philosophie, Religionen, Symbole, Mystik, Joseph Campbell etc., als Ihr in englischer Sprache ausdrücken könnt? Oder interessieren euch Themen, die speziell für den deutschen Sprachraum relevant sind? Für Beides ist das deutschsprachige Diskussionsforum der richtige Ort!

Moderator: Martin_Weyers

Martin_Weyers
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Nichts ist interessant, wenn man bereits weiß, was dabei herauskommt.

Joseph Campbell
Endgültige Antworten gibt's leider - oder zum Gück! (s. o.!) - keine, aber jede Menge Anregungen, um nach neuen und angemessenen (vorläufigen) Antworten zu suchen. Was willst du mehr?!
Works of art are indeed always products of having been in danger, of having gone to the very end in an experience, to where man can go no further. -- Rainer Maria Rilke

SiCollier
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Was willst du mehr?
Was will ich eigentlich mehr? Zwei Dinge, wenn ich ehrlich bin: zum einen wollte ich die anscheinend vielen, die lesen, zum Schreiben aktivieren.
Zum Zweiten: Anregungen - das ist ein gutes Stichwort. Genau darum geht es mir. Insoweit ist das Campbell-Zitat genau passend.

Wie an anderer Stelle erwähnt, bin ich sehr katholisch erzogen worden. Das prägt ziemlich. Durch verschiedene (meist bittere) Erfahrungen mußte ich feststellen, daß da „irgendwas nicht stimmt“. So begann ich, mich mit Mythologie zu beschäftigen. Um immer wieder festzustellen, ob es nun ein seriöser Wissenschaftler wie Campbell schreibt, oder auch mal was in einem weniger seriösen Buch steht: das, was ich mal gelernt (und geglaubt) habe, stimmt so nicht. Und wenn ich dann im katholischen „Lexikon für Theologie und Kirche“ nachlese - werden die Aussagen von Campbell & Co bestätigt...

Und dann gibt es eben ein Grundproblem: wie „leicht“ ist es, das, was man das ganze Leben geglaubt und als unumstößliche Tatsache hingenommen hat, als - sagen wir - so nicht richtig zu akzeptieren? Wie „leicht“ ist es zu akzeptieren, daß man möglicherweise bisher etwas falsches geglaubt hat (was einem aber bei „Strafe von Fegfeuer und Hölle“) eingetrichtert wurde? Wie „leicht“ ist es, solche Überzeugungen aufzugeben, sich davon zu befreien?

Und da spielt für mich die Historizität eben eine große Rolle. Wie schon Campbell (in „Das bist Du“) ausführt, wird in der kath. Kirche hierauf der größte Wert gelegt. Mein ganzes Leben wurde ich gelehrt, daß sich alles historisch so (und nicht anders) abgespielt hat. Und daß das in der Weltgeschichte ganz einmalig und nie vorher dagewesen war. Und plötzlich findet sich dasselbe bei den alten Ägyptern (und auch anderswo auf der Welt). Alles schon mal dagewesen. Da wird’s dann schon schwierig.

Ich habe mich in den letzten Jahren viel mit dem sog. „Turiner Grabtuch“ befaßt. Es zeigt einen Gekreuzigten, der EXAKT auf die Weise umkam, die in den Evangelien beschrieben wurde. Also doch historisch? (Allerdings ist die Passion ja auch das, was durch nicht-christliche Schriftsteller, z. B. Flavius Josephus und - ich meine auch - Tacitus, verifiziert wurde.)

Einfach gesagt: mein Problem besteht darin, daß ich mir einfach nicht vorstellen kann, daß sich - salopp gesagt - jemand hinsetzt und sich sagt: „Jetzt verfasse ich in Metaphernsprache ein Evangelium,“ und dann Wunder, Auferstehung usw. erfindet. Zumal ja an einigen Stellen ausdrücklich auf Augenzeugen Bezug genommen wird. Und lt. Carsten Peter Thiede die Evangelien wohl in der heute bekannten Form spätestens bis zum Jahr 70 n. Chr. vorlagen. Und damals gab es noch lebende Augenzeugen. Und ich denke, man kann das nicht nur mit „damals sah man das noch nicht so eng“ erklären. Die „Himmelsscheibe von Nebra“ (wenngleich nochmals 1500 Jahre älter) zeigt doch, daß unsere Vorfahren so dumm, wie wir das heute manchmal unterstellen, eben gerade nicht waren.

Vielleicht bin ich zu sehr Rationalist. Vielleicht habe ich zu große Scheuklappen auf. Wie dem auch sei, dieser Tage habe ich mir ein Werk zugelegt über die Entwicklung des Jesusbildes in der Kirchengeschichte. Mal sehen, was da über die Anfänge zu lesen ist.

Allerdings: daß ich keine endgültige Antwort finden werde, ist mir schon bewußt. Denn das, was jenseits aller menschlichen Denkvorstellungen ist, kann ich, der ich nun mal Diesseits dieser Denkvorstellungen „gefangen“ bin, nie und nimmer verstehen.

Aber versuchen kann man’s halt...

Martin_Weyers
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Post by Martin_Weyers »

On 2004-07-21 13:32, SiCollier wrote:
Und dann gibt es eben ein Grundproblem: wie „leicht“ ist es, das, was man das ganze Leben geglaubt und als unumstößliche Tatsache hingenommen hat, als - sagen wir - so nicht richtig zu akzeptieren? Wie „leicht“ ist es zu akzeptieren, daß man möglicherweise bisher etwas falsches geglaubt hat (was einem aber bei „Strafe von Fegfeuer und Hölle“) eingetrichtert wurde? Wie „leicht“ ist es, solche Überzeugungen aufzugeben, sich davon zu befreien?

Und da spielt für mich die Historizität eben eine große Rolle.
Ich glaube, was man in deiner Situation von Campbell (und Willigis Jäger) lernen kann. ist, daß der wesentliche Gehalt religiöser Symbole eben nicht ihre Bezugnahme auf historische, sondern auf geistig (psychisch-metaohysische) Wahrheiten ist.

Ich bin ebenfalls in einem katholischen Umfeld aufgewachsen, jedoch nicht streng katholisch erzogen worden. Für mich kamen erste Zweifel an den kirchlichen Lehren bereits sehr früh im Grundschulalter. Daher war es für mich geradezu befreiend, zu sehen, daß es auf historische Gältigkeit gar nicht ankommt. Die Essenz der Mystik, daß Göttliches in uns allen ist, und wir in den Tiefen unserer Psyche eins sind mit der Transzendenz, oder dem was wir Gott nennt, ist für mich eine sehr versöhnlich stimmende Erkenntnis, mit der ich gut leben kann. Den Gott des AT fände ich, wenn es in gäbe, dagegen ziemlich furcht einflößend. Und wenn unser innerstes Wesen unsterblich ist, wozu brauchen wir dann noch eine körperliche Auferstehung?

So wie ich Jung verstehe, kann man Symbole, die uns in der Kindheit gelehrt (sollte ich sagen: eingebrannt?) wurden, nicht loswerden. Man kann sie nur transformieren, um ihnen wieder einen Sinn abzugewinnen.

Vielleicht solltes du mal in Reflections on the Art of Living - A Campbell Companion reinschauen, Campbell's mit Abstand persönlichstes Buch, weil es aus transkribierten gesprochenen Texten aus einem Seminar in Esalen besteht, Campbell hier also nicht zu einem anonymen Leser, sondern unmittelbar zu seinen Schülern spricht.
Du kannst ein Symbol nicht loswerden, solange du nicht das gefunden hast, worauf es Bezug nimmt. Wenn du in deinem eigenen Herzen ein Zentrum der Erfahrung für das findest, gegen welches das Symbol ausgetauscht wurde, wird das Symbol verschwinden. Überlege: Worauf deutet es als Metapher? Wenn du das herausfindest, wird das Symbol seine blockierende Kraft verlieren, oder es wird zu einer führenden Kraft werden.

Joseph Campbell, Reflections on the Art of Living (Übersetzung M. W.)
Allerdings: daß ich keine endgültige Antwort finden werde, ist mir schon bewußt. Denn das, was jenseits aller menschlichen Denkvorstellungen ist, kann ich, der ich nun mal Diesseits dieser Denkvorstellungen „gefangen“ bin, nie und nimmer verstehen.

Aber versuchen kann man’s halt...
Man kann eigentlich immer nur versuchen, passende Symbole zu finden, oder vorhandene Symbole neu zu interpretieren, damit sie wieder passen.

_________________
"If you gaze for long into an abyss, the abyss gazes also into you." - Friedrich Nietzsche

<font size=-1>[ This Message was edited by: Martin on 2004-07-26 17:16 ]</font>

B.E.P.
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Post by B.E.P. »

On 2004-07-21 13:32, SiCollier wrote:
Was willst du mehr?
Was will ich eigentlich mehr? Zwei Dinge, wenn ich ehrlich bin: zum einen wollte ich die anscheinend vielen, die lesen, zum Schreiben aktivieren.
Zum Zweiten: Anregungen - das ist ein gutes Stichwort. Genau darum geht es mir. Insoweit ist das Campbell-Zitat genau passend.

Wie an anderer Stelle erwähnt, bin ich sehr katholisch erzogen worden. Das prägt ziemlich. Durch verschiedene (meist bittere) Erfahrungen mußte ich feststellen, daß da „irgendwas nicht stimmt“. So begann ich, mich mit Mythologie zu beschäftigen. Um immer wieder festzustellen, ob es nun ein seriöser Wissenschaftler wie Campbell schreibt, oder auch mal was in einem weniger seriösen Buch steht: das, was ich mal gelernt (und geglaubt) habe, stimmt so nicht. Und wenn ich dann im katholischen „Lexikon für Theologie und Kirche“ nachlese - werden die Aussagen von Campbell & Co bestätigt...

Und dann gibt es eben ein Grundproblem: wie „leicht“ ist es, das, was man das ganze Leben geglaubt und als unumstößliche Tatsache hingenommen hat, als - sagen wir - so nicht richtig zu akzeptieren? Wie „leicht“ ist es zu akzeptieren, daß man möglicherweise bisher etwas falsches geglaubt hat (was einem aber bei „Strafe von Fegfeuer und Hölle“) eingetrichtert wurde? Wie „leicht“ ist es, solche Überzeugungen aufzugeben, sich davon zu befreien?

Und da spielt für mich die Historizität eben eine große Rolle. Wie schon Campbell (in „Das bist Du“) ausführt, wird in der kath. Kirche hierauf der größte Wert gelegt. Mein ganzes Leben wurde ich gelehrt, daß sich alles historisch so (und nicht anders) abgespielt hat. Und daß das in der Weltgeschichte ganz einmalig und nie vorher dagewesen war. Und plötzlich findet sich dasselbe bei den alten Ägyptern (und auch anderswo auf der Welt). Alles schon mal dagewesen. Da wird’s dann schon schwierig.

Ich habe mich in den letzten Jahren viel mit dem sog. „Turiner Grabtuch“ befaßt. Es zeigt einen Gekreuzigten, der EXAKT auf die Weise umkam, die in den Evangelien beschrieben wurde. Also doch historisch? (Allerdings ist die Passion ja auch das, was durch nicht-christliche Schriftsteller, z. B. Flavius Josephus und - ich meine auch - Tacitus, verifiziert wurde.)

Einfach gesagt: mein Problem besteht darin, daß ich mir einfach nicht vorstellen kann, daß sich - salopp gesagt - jemand hinsetzt und sich sagt: „Jetzt verfasse ich in Metaphernsprache ein Evangelium,“ und dann Wunder, Auferstehung usw. erfindet. Zumal ja an einigen Stellen ausdrücklich auf Augenzeugen Bezug genommen wird. Und lt. Carsten Peter Thiede die Evangelien wohl in der heute bekannten Form spätestens bis zum Jahr 70 n. Chr. vorlagen. Und damals gab es noch lebende Augenzeugen. Und ich denke, man kann das nicht nur mit „damals sah man das noch nicht so eng“ erklären. Die „Himmelsscheibe von Nebra“ (wenngleich nochmals 1500 Jahre älter) zeigt doch, daß unsere Vorfahren so dumm, wie wir das heute manchmal unterstellen, eben gerade nicht waren.

Vielleicht bin ich zu sehr Rationalist. Vielleicht habe ich zu große Scheuklappen auf. Wie dem auch sei, dieser Tage habe ich mir ein Werk zugelegt über die Entwicklung des Jesusbildes in der Kirchengeschichte. Mal sehen, was da über die Anfänge zu lesen ist.

Allerdings: daß ich keine endgültige Antwort finden werde, ist mir schon bewußt. Denn das, was jenseits aller menschlichen Denkvorstellungen ist, kann ich, der ich nun mal Diesseits dieser Denkvorstellungen „gefangen“ bin, nie und nimmer verstehen.

Aber versuchen kann man’s halt...

Puh - jetzt habe ich mich erst einmal mühsam in dieses Forum hinein gearbeitet, wo ich doch kaum noch Englisch kann und umringt bin von professionellen Netzwerkern und (Kinder-) Experten in meiner großen Familie...
Also, ich habe mich jetzt erst von der JCF finden lassen, obwohl ich vor zehn Jahren meine persönliche "große" Campbell-Zeit hatte, mit allem, was dazu gehört!
Habe mich jetzt aktuell inhaltlich noch nicht so vertieft, insbesondere kenne ich das Buch 'Das bist Du' nicht. Aber dennoch möchte ich Dir, SiCollier, die mehrfach gewünschten Denkanstöße spontan senden, denn ich vermute, einen ähnlichen "Kampf" hinter mir zu haben - vielleicht in potenzierter Form, da ich (evangelischer Herkunft) den evangelikalen Fundamentalismus des Ehemannes serviert bekam. Das Thema kündigte sich vor vielen Jahren auf besondere Weise an: Es kam eine große schwarze amerikanische Gangsterlimousine in meinen Traum gefahren!
Unzählige Auseinandersetzungen mit dem Thema und Studium von Literatur ist seit dem gelaufen, und "es" hat mich noch immer, obwohl die "andere Seite" (das "andere Amerika", vielmehr der organizistische Weg in mir als ehemalige Künstlerin -zumindest in zwei Ausbildungen) viel mehr in meiner Persönlichkeit angelegt ist. Vielleicht ist es viel eher eine Frage dem zu trauen. Ich konnte mich nicht auf die Wege von anderen verlassen, und ich gehöre nicht in das Rudel orthodoxer Wortgläubigkeit. Aber es war ein langer Prozeß (und eine Heldenreise) sich dazu zu bekennen!
Ich möchte dir hiermit also auf die Schnelle einige Buchtitel nennen, die mir persönlich immer wieder hilfreiche Aspekte liefern (neben den unzähligen anderen, ja es ist auch in meiner Welt ein ganzer Kosmos und Schatz, welcher im "anderen Lager" verboten war), wobei eines feministisch die Fragen der Ummodelung des Mythos berührt ("Der Mythos vom Sündenfall" von Hildegard Tornau, bezieht sich u.a. auf Jan Assmann), ein älteres in seiner Aktualität den Konflikt von den Wurzeln her offen legt, den eine patriarchale Kultur uns beschert(Riane Eisler "Kelch und Schwert") und eines speziell für deine Konsensusrealität als Katholik "Nein und Amen" von Uta Ranke-Heinemann.Jedenfalls hat sie mir die Augen geöffnet für historische Verfälschung im Katholizismus. Und zur Erheiterung der ernsten Glaubensfragen möchte ich abschließend noch einen Link mitliefern; google mal > Der Papst, die Kardinäle und die Frauen. Eine Satire. - Eine ältere Festrede vom Schlingensief-Festival Frankfurt.Ein m-M. nach köstliches Beispiel, wie jemand mit eben diesen Fragen seines Herkunftssystemes umgeht. LG v. BEP

SiCollier
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Post by SiCollier »

Den Gott des AT fände ich, wenn es in gäbe, dagegen ziemlich furcht einflößend. Und wenn unser innerstes Wesen unsterblich ist, wozu brauchen wir dann noch eine körperliche Auferstehung?
(Martin am 2004-07-26 17:13)
Allerdings, dem ist zuzustimmen. Mit diesem Gott des AT habe ich auch so meine Schwierigkeiten.
Vom Gedanken der körperlichen Auferstehung habe ich mich auch schon seit vielen Jahren verabschiedet, das macht eigentlich keinen Sinn. Aber ich bin da auf einem ganz anderen Weg hingekommen: das Weltall ist doch recht groß. Und dann sollen ausgerechnet auf einem einzigen Planeten die physikalischen Gesetze aufgehoben und ein jenseitiges Reich errichtet werden? Das konnte ich mir weder vorstellen, noch ergibt es einen logischen Sinn.
So wie ich Jung verstehe, kann man Symbole, die uns in der Kindheit gelehrt (sollte ich sagen: eingebrannt?) wurden, nicht loswerden. Man kann sie nur transformieren, um ihnen wieder einen Sinn abzugewinnen.
(Martin am 2004-07-26 17:13)
Volltreffer; so etwa kommt es mir vor. Ob ich auch noch mal Jung lesen sollte?

Das Buch „Reflections on the Art of Living - A Campbell Companion“ habe ich. Danke für den Hinweis.

* * * * *

BEP,
danke für die Antwort und die Gedankenanstöße. Mit dem englischen Forum habe ich ähnliche Probleme. Ich verstehe Englisch zwar ganz gut, aber es ist halt doch eine Fremdsprache. Und bis ich mich endlich in eine Diskussion eingelesen habe, daß ich antworten könnte, ist die schon wieder so viel weiter, daß alles „Schnee von gestern“ ist. Na ja, irgendwann wird's mal.

„Das bist Du“ kann ich nur empfehlen; ich werde es demnächst wohl zu dritten Mal lesen.

Das weite Thema „Historizität“ wird mich wohl noch lange beschäftigen, das ist einfach zu sehr eingebrannt. - In Sara Douglass' Fantasy-Epos „Axis Trilogie“ (die auf deutsch in 6 Bänden erscheint) macht der Titelheld eine ähnliche Entwicklung bzw. Erfahrung. Allerdings hat der den Vorteil, daß ihm eine Alternative „fertig präsentiert“ wird, die er nur zu akzeptieren braucht. So einfach ist's im richtigen Leben halt nicht. (Die Bände 4-6, als „Wayfarer Redemption – Trilogy“ erschienen, kommen wohl nicht auf deutsch. Hier nimmt die Autorin, auch nach eigenem Bekunden auf ihrer Homepage, deutlich Bezug zu wesentlichen westlichen Mythen und Mythologien, u. a. Atlantis, Genesis=Garten Eden, Sodom und Gomorra und manche andere. Auf der Homepage auch der Hinweis, daß sie als Vorbild für die „falsche“ alte Religion im Buch die kath. Kirche des Mittelalters genommen hat.)

SiCollier
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Post by SiCollier »

In einem ganz neuen Buch habe ich einen Schlußsatz gefunden, der auch gut zu diesem Topic paßt, und den ich daher hier zitieren will. (Das Buch ist englisch, da das hier aber das deutschsprachige Forum ist, will ich auch eine deutsche Übersetzung liefern. Allerdings bin ich kein Profiübersetzer – man möge mir also manche „Holprigkeit“ nachsehen.)

And for some of us the historical record really does matter, possibly because in some ways, history is like any other good story. It is a narrative that we tell and retell, filled with characters that we can relate to, with plots and subplots that we somehow feel a part of. The past is a story that we ourselves can live in, one that can inform our lives in the present. It is a true story, one that contributes to our sense of ourselves and our place in the world. And for that reason, if for no other, it seems important for us to know the truth about what happened in the past.

Aus: Bart D. Ehrman “Truth and Fiction in The Da Vinci Code”
Oxford University Press 2004
Sinngemäße deutsche Übersetzung:
„Und für einige von uns spielt die historischen Ereignisse tatsächlich eine Rolle, vielleicht weil Geschichte in mancherlei Hinsicht wie eine gute Geschichte ist (wirkt). Eine Geschichte, die wir immer wieder erzählen, die Charaktere enthält, zu denen wir uns hingezogen fühlen, mit Handlungen und Nebenhandlungen, mit denen wir uns irgendwie identifizieren können. Die Vergangenheit (Geschichte) ist eine Geschichte, in der wir leben können, eine Geschichte, die unser Leben in der Gegenwart befruchten kann. Es ist eine wahre Geschichte; eine, die zu unserem Selbstverständnis und zum finden unseres Platzes in der Welt beiträgt. Und schon allein aus diesem Grund scheint es für uns wichtig zu sein, die Wahrheit über das zu wissen, was in der Vergangenheit geschah.“


N.B. Übrigens eine hochinteressante Angelegenheit, sich mit den Ergebnissen der (seriösen) historischen Forschung zur Zeit der Zeitenwende zu befassen. Manche Aussagen (aus „Neuem Testament“ und Mythologie) erscheinen in ganz neuem und verändertem Licht.

<font size=-1>[ This Message was edited by: SiCollier on 2004-11-17 05:00 ]</font>

steppenwolf
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Post by steppenwolf »

Wahrscheinlich ist das, was ich hier schreibe, für Dich - SiCollier - alles Schnee von gestern, bei dem Pensum an Büchern, die Du so liesst. Ursprünglich hatte ich als Antwort einen mehrere Seiten langen Text über Flavius Josephus und die jüdische Geschichtsschreibung, das Thomasevangelium, den Galaterbrief, in dem sich Paulus auffällig vehement gegen den Vorwurf der Lüge wendet, „Wunderheilungen“, wie sie auch heute vorkommen und die Physiologie des Kreuzestodes geschreiben. Im Nachhinein erscheint mir das irrelevant. Ich möchte daher nicht allzuviel über die Historizität von Jesus schreiben, es ist ja schon vieles gesagt worden.

Ich denke, das, was ich dazu beitragen kann, ist am besten in einer Geschichte zu erzählen. Übrigens fand ich in Deiner Übersetzung von Bart D. Ehrman “Truth and Fiction in The Da Vinci Code” in Deinem letzten Beitrag interessant, dass Du sowohl “past“ als auch “story“ als “Geschichte“ übersetzt hast. Martin, sag Du nochmal was gegen die deutsche Sprache. Es ist die Geschichte von einem Traum. Ich hatte während der ersten Studienjahre zwei Semester Theologie studiert und in einem Wohnheim mit vorwiegend Theologiestudenten gewohnt. Dort hatte ich fast jeden Abend Diskussionen über die Historizität Jesu; auch für mich war diese Frage existenziell. Eines Abends hatte ich mit einem Theologen eine Diskussion über einen Aufsatz von Bultmann mit dem Titel „Nachdenken über Gott“.
In der Nacht träumte ich, ich sei in einem Kellergewölbe - wie die Krypta einer romanischen Kirche. Vor mir standen viele Menschen in der Kleidung der Juden zur Zeit Jesu. Ich versuchte zu sehen, was vor sich ging; die Menge schien aufgebracht. Vorn stand ein wild gestikulierender Mann, zu seinen Füssen kniete ein junger Mann. Als ich ihn sah, wusste ich, dass ich dort kniete. Der ältere Mann schrie: „Er hat über Gott nachgedacht, was sollen wir mit ihm tun?“ „Steinigen!“ schrie die Menge. Ein weiterer Mann schlug zwei Steine gegeneinander, so dass eine Art Faustkeil entstand. Damit öffnete er meine Schädeldecke, um mein Gehirn zu entnehmen. In diesem Moment trat Jesus durch die Menge, nahm dem Mann den Stein aus der Hand, zerbrach ihn und sprach „Welcher Vater würde seinem Kind einen Stein geben, wenn es Brot möchte?“, wobei der Stein zu Brot wurde. Er verteilte es unter die Anwesenden. Das Volk beruhigte sich, es reichte für alle. Ich spürte, dass ich wieder hintermeiner Säule stand. Im Weggehen zwinkerte er mir zu, als wolle er sagen „So geht das.“
Für mich war dieser Traum absolut real, und wäre mein Ich schwächer, hätte ich mich dafür verbürgt, dass es sich um eine historische Wahrheit handelte. Ich hätte diese Wahrheit in Stein meiseln können und in 1000 Jahren hätten die Menschen sich darüber „den Kopf zerbrochen“. Manch einer hätte gesagt, dass die Molekularstruktur eines Steines von der eines Brotes zu verschieden ist, um eine Metamorphose wahrscheinlich werden zu lassen, manch einer hätte einen Trick vermutet, z.B. ein als Stein angemaltes Brot. Textkritiker hätten bemerkt, dass es sich bei der Geschichte um eine Verdichtung von sechs Bibelstellen handele, dass der Mythos also schon älter sein müsse und daher nicht einzigartig sein könne. Der besonders schlaue Autor des Buches „Olaf's Steintafel hat doch recht“ hätte bemerkt, dass bereits in der Steinzeit Operationen am offenen Schädel mit Steinwerkzeugen erfolgreich durchgeführt wurden, und sähe dies als Beweis für die historische Wahrheit. Die Kritiker hätten zu bemerken, dass das Öffnen des Schädels keine gängige Methode der Steinigung war. Irgendwo hätten alle recht, aber würde irgendeiner der Interpreten die eigentliche Dimension begreifen? Hätte die Geschichte mehr Wert, wenn sie logisch, und nicht „nur“ metaphorisch wäre. Für mich war es eine Offenbarung, und niemand wird mich vom Gegenteil überzeugen, so wie ich niemanden vom Wahrheitsgehalt überzeugen werde. Es sei den, in tausend Jahren drohen die Lehrer mit dem Fegefeuer, wenn Zweifel aufkommen. Dann könnte ich selbst nicht mehr daran glauben. Oder jemand glaubt, weil er ähnliche Erfahrungen gemacht hat, dann sind es aber seine Erfahrungen.
Ich habe mich nicht einmal gefragt, ob der Traum einer unbewussten Verarbeitung entsprang oder sich Jesus (wie auch immer man den wieder deuten will) offenbart hat. Mystische Erfahren passen nicht in eine logische Kategorie. Ich konnte zwischen den Identitäten wechseln und die Gesetze der Naturwissenschaften ausser Kraft setzen. Ich habe mich nicht in dem klaren Bewußtsein hingesetzt, „Ich schreibe jetzt nicht historisch, sondern in Metaphern“. So etwas hätte ich mir nie ausdenken können, auch nicht diese Verdichtung und Verknüpfung von mehreren Geschichten (wie auch in Deinem Beispiel von der Verschmelzung des Ehegatinnen-Mörders aus dem 6. Jahrhundert mit der eines hingerichteten Ritter aus dem 15. Jahrhundert im Ritter Blaubart).

Vielleicht habe ich ein bisschen zum Verständnis beigetragen, wie wichtig Historizität und rationales Verständnis sind. Die Bibel ist nicht falsch, sie ist halt nur nicht historisch-wissenschaftlich zu begreifen.


SiCollier
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Post by SiCollier »

Danke, steppenwolf, für Deine Antwort und Erzählung, die mir etliches zum Nachdenken liefert, vor allem die möglichen Interpretationen.

„Schnee von gestern“ ist das sicherlich nicht für mich. Ich würde gerne noch viel mehr lesen, doch die Zeit, die Zeit. Aber ich muß ganz zufrieden sein, in den letzten Monaten habe ich mir viel Zeit für Bücher genommen.

Für eine Antwort möchte ich noch ein paar Tage warten, da ich gerade in einem Buch* an genau dem Punkt dieser Diskussion angekommen bin: der Historizität und der historisch (wissenschaftlich) richtigen Abfolge der Dinge („The History of Christianity“). Da scheinen etliche neue Einsichten zu warten, die ich dann in einem eigenen Beitrag gleich verwenden kann.


* Karen L. King „The Gospel of Mary of Magdala“. Die Autorin ist Winn Professor of Ecclestical History, was auch immer (Bildungslücke) ein „Winn Professor“ ist.

steppenwolf
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Post by steppenwolf »

Danke für Deine prompte Antwort. Nachdem ich ein positives Jesusbild vermittelt habe, möchte ich etwas schreiben, was Dich vielleicht verstören wird. Es ist sehr provokativ, ich hoffe, Du kannst damit umgehen.
Jetzt weiss ich nicht, wie Ihr es schafft, ein Zitat so schön hervorzuheben. Ich beziehe mich auf eine Äusserung von Martin und Dir:

„Den Gott des AT fände ich, wenn es ihn gäbe, dagegen ziemlich furcht einflößend.“

Vor Jahren habe ich Pasolinis „Medea“ gesehen. Es ist wirklich schon lange her, so dass ich nicht garantieren kann, die Handlung vollkommen richtig wiederzugeben. Den Film habe ich mir heute bestellt, um ihn mal wieder anzuschauen. War übrigens ein Flop, aber - wie ich finde - mythologisch interessant.
Dazu ist vorausschickend zu sagen, dass in frühen Kulturen, vor der Etablierung von Erbmonarchien, ein König für ein Jahr gewählt wurde. In dieser Zeit war er gottgleich, wurde aber nach Ablauf der Frist geopfert, um die Fruchtbarkeit aufrechtzuerhalten. Später deligierten die Könige diese Ehre an Untergebene, um den Genuss des gottgleichen Königtums länger auskosten zu können. Noch später mussten Tiere dafür herhalten. Diesen Übergang zeigt z.B. die Ilias, in der Agamemnon seine Tochter Iphigenie opfern musste, um eine Windstille zu beenden. Artemis sandte im letzten Moment eine Hirschkuh und entrückte Iphigenie nach Tauris. Eine fast identische Stelle gibt es im Alten Testament, wo Abraham seinen einzigen Sohn Isaak opfern soll, aber statt dessen einen Widder gesandt bekommt. In beiden Fällen handelt es sich um das Opfer der Erstgeburt, die auch in Israel und Judaea bis zur Zerstörung des Tempels geopfert wurde, allerdings in Tierform, um die Erstgeburt damit auszulösen. Die Erstgeburt gehörte Gott.
Der Film „Medea“ beginnt, soweit ich mich erinnere, mit einem Mensschenopfer und seiner anschliessenden Zerstückelung. Das Blut wurde auf die Blätter der Pflanzen geschmiert, das Fleisch im Boden der Felder vergraben. Blut wurde auch in den Eleusinischen Mysterien über das Getreide gegossen, um es fruchtbar zu machen. Wahrscheinlich glaubten die Menschen, dass sich das Menstruationsblut im Körper der Frau neun Monate zu einem neuen Menschen verdichtet. Ist nur so eine Idee.
Der Film hatte also zwei Elemente, die mich besonders faszinierten: Der Opfertod des vom Gottkönig Erwählten und die Zerstückelung seines Leibes (oder Laibes, wenn man es auf das Brot bezieht - Deutsch ist schon eine interessante Sprache) und die Verteilung und das Trinken seines Blutes, das dahin gegeben wurde zur Vergebung der Sünden. Ich hatte nie verstanden, warum ein Gott sich selbst an sich selbst opfern musste, um die Sünden der Welt zu vergeben.
Jesus, die Erstgeburt, der Erwählte Gottes, der sich opferte und dessen im „kollektiven Kanibalismus“ des Abendmahls gedacht wird. Spricht darin nicht der Gott des Alten Testaments?


steppenwolf
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Post by steppenwolf »

Ich hoffe, ich habe mit meinem letzten Beitrag nicht die religiösen Gefühle von jemandem verletzt, aber es sind ja auch provokative Ansichten erwünscht, die ich gern zur Diskussion stelle und auch für mich keine entgültigen Erkenntnissse sind.
Zum letzten Beitrag möchte ich noch ergänzen, dass es auch die Erstgeburt war, die in der zehnten Plage vor dem Auszug des Volkes Israel von Gott getötet wird.
Mit
dessen im „kollektiven Kanibalismus“ des Abendmahls gedacht wird
habe ich mich wohl als Protestant geoutet. Für Katholiken muss die Vorstellung, in der Heiligen Komunion den wahrhaften Leib Christi zu verspeisen, noch befremdlicher sein.
Spricht darin nicht der Gott des Alten Testaments?
oder eher ein noch älterer Gott, vielleicht der, den Jahwe-Elohim verdrängt hat? „Verdrängt“ ist in diesem Zusammenhang ein interessantes Wort. Es steht zum einen für einen historisch-geografischen Prozess durch Missionierung und Religionskriege, zum anderen für einen intrapsychischen Prozess, einen Abwehrmechanismus des Ich. Und wie wir von der Psychoanalyse wissen, wird sich gerade das Verdrängte unbewusst Geltung verschaffen. Warum sollte sich nicht im Gott des Neuen Testaments unbewusst und unterschwellig ein viel älterer Gott manifestieren, ein Gott, der bereits verdrängt war (historisch und psychisch). Dass wir einen Gott anbeten, der ein Menschenopfer gefordert hat, verdrängen auch wir nur allzugern. Welcher Theologe spricht das so klar aus? „Wunder des Glaubens“ ist die Antwort auf die Frage nach dem Kreuzestod. Wir geben „den Juden“, Judas Ischkariot oder Pontius Pilatus die Schuld. Jesus hat dagegen immer betont, dass es Gottes Plan sei, den er zu erfüllen hätte. Pilatus wird in der Orthodoxen Kirche sogar als Heiliger verehrt, weil er so ein zuverlässiger Protagonist im göttlichen Drama des Kreuzestodes war; Juden wurden aber zu allen Zeiten und in allen Ländern, vorallem natürlich hier, verfolgt. Da sich - wie gesagt - Verdrängtes unbewusst seine Geltung verschafft, erklärt sich daraus vielleicht die irrationale Wut aller Zeiten, mit der Ketzer, Hexen und Angehörige fremder Religionen, besonder in Lateinamerika, wo Menschenopfer üblich waren, verfolgt wurden. Sie standen für das, was man nicht sehen wollte, für den verdrängten Gott, der zumindest in der Apokalypse des Johannes durchscheint.
Es ist ein häufiger Glaube - selbst bei Atheisten -, dass das Christentum eine reine Religion ist, dass es nur missbraucht wurde. Der Satan ist besiegt, es regiert das Gute. Hat nicht gerade durch diese Ansicht der Satan seine Macht?

Ich weiss nicht, ob jemand schon mal zu diesem Thema was geschrieben hat. Wie Du -SiCollin - siehst, sind meine Gedanken dazu noch sehr ungeordnet. Obwohl ich hier zum Thema „Das bist Du“ schreibe, habe ich das Buch nicht gelesen. Eigentlich kenne ich von Campbell nur einige Mitschnitte seiner Seminare und sonst nichts. Die Herangehensweise habe ich durch C.G.Jung gelernt und mich dann selbst mit Mythen beschäftigt und mir mein eigenes Bild gemacht. Daher habe ich keinen Überblick über verschiedene Deutungsversuche. Vielleicht hast Du etwas ähnliches, aber durchdachteres, schon mal gelesen. Ich wäre für Literaturhinweise dankbar. Du hast sicher einen besseren Überblick über die Literatur.


steppenwolf
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Post by steppenwolf »

Das war sicher harter Tobak, was ich in meinen letzten beiden Beiträgen geschrieben habe.
Vor über zehn Jahren war ich an dieser Frage hängengeblieben und bin letztlich zu diesem Schluss gekommen. Danach habe ich nicht mehr weiter über das christliche Gottesbild nachgedacht, bin zumindest nicht mehr zu neuen Einsichten gekommen.
Es geht um die Frage, warum braucht Gott ein Menschenopfer - sich selbst - um der Menschheit vor sich selbst zu vergeben? Wohlgemerkt handelt es sich dabei nicht um eine Frage nach der Historizität. Die Frage macht auch Sinn, wenn die Kreuzigung gar nicht stattgefunden hat, handelt es sich doch um den zentralen Archetyp des Christentums. Diese Frage wird erstaunlich selten gestellt und Ansätze daran werden mit dem Hinweis auf das „Wunder des Glaubens“ erstickt. Ich finde aber, es ist eine zentrale Frage, die, auch wenn sie nicht gestellt wird, etwas - häufig unbewusst - beunruhigendes hat.
Da ich mich schon lange nicht mehr als Christ sehe, gehen mir solche blasphemischen Interpretationen etwas leichter von der Hand, dahin zu kommen war aber schmerzlich. Ich kann nur noch einmal betonen, dass ich damit niemanden verletzen wollte. Aber auffällig und diskussionswürdig finde ich trotzdem die Tatsache, dass im Namen der monotheistischen Religionen mehr Kriege geführt wurden als im Namen von Hinduismus, Buddhismus oder Daoismus. Ich würde gern daraus ein neues Thema zu machen.
Wie Martin schon sagt :

„So wie ich Jung verstehe, kann man Symbole, die uns in der Kindheit gelehrt (sollte ich sagen: eingebrannt?) wurden, nicht loswerden. Man kann sie nur transformieren, um ihnen wieder einen Sinn abzugewinnen.“

Daher habe ich mich durch dieses Forum wieder mit dieser Materie auseinandergesetzt und am Wochenende „Antwort auf Hiob“ von C.G.Jung gelesen. Er wirft auch die Frage nach dem Menschenopfer auf, kommt aber zu einer völlig anderen Deutung.

Jung zeichnet das Bild des alttestamentlichen Gottes als allmächtig und allwissend. In seiner Allmacht kennt er aber keine Grenzen, keine Barrieren, die ihn zum Anhalten zwingen, zum Innehalten, zur Selbstreflexion.
Wie eine Naturgewalt in unreflektierter, amoralischer Bewusstheit geht er über das Leiden seines Knechtes Hiob hinweg. Er folgt der Einflüsterung seines personifizierten Zweifels, des Satans, der ein immanenter Bestandteil der allumfassenden Gottheit ist. In seiner Vernichtung des Hiob spürt er dessen moralische Überlegenheit und damit dessen tieferen Einblick in die göttliche Doppelnatur. Diese wird sogar auch in der sechsten Bitte des Vaterunsers deutlich „und führe uns nicht in Versuchung“. Warum sollte Gott das tun? Aus dieser Erfahrung entsteht letztlich der Wunsch, in der Menschwerdung die Begrenztheit zu erfahren, um eine Selbstreflexion zu verwirklichen. Die Antwort auf Hiob ist eigentlich eine Frage, die letzten Worte Jesu „Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“, der Übergang vom im Menschen inkarnierten Gott zum wahren Menschen, die Vollendung der Menschwerdung im Erleben des Abgrunds eigenen Ausgeliefertseins und der Erkenntnis Gottes in der Gottverlassenheit.
Hierbei handelt es sich nicht notwendigerweise um die Entwicklung eines Gottes, sondern um die Entwicklung eines Gottesbildes im kollektiven Unbewussten vom Alten Testament bis zum Dogma der leibhaftigen Himmelfahrt Mariae im Jahre 1950.

SiCollier, Du fragst an anderer Stelle, ob Du auch mal C.G.Jung lesen solltest. Das kann ich nur empfehlen. „Antwort auf Hiob“ ist eines seiner letzten Werke und setzt die Kenntnis der Begriffe seiner analytischen Psychologie voraus. Diese werden von J. Campbell auch vermittelt. Ansonsten gibt Jolande Jacobi, eine direkte Mitarbeiterin von Jung, eine gute Einführung.
Ich lese jetzt erst einmal „Das bist Du“.

SiCollier
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Post by SiCollier »

Ich hoffe, ich habe mit meinem letzten Beitrag nicht die religiösen Gefühle von jemandem verletzt
Zumindest für mich kann ich sagen, daß Du ganz beruhigt sein kannst. Ich fühle mich nicht verletzt, angegriffen o. ä. Im Gegenteil, mir ist ja an - auch gegenteiligen - Meinungsäußerungen sehr gelegen.
Für Katholiken muss die Vorstellung, in der Heiligen Kommunion den wahrhaften Leib Christi zu verspeisen, noch befremdlicher sein.
Nein, das kann ich so nicht sagen. Man denkt nicht weiter darüber nach. Es ist eben so. Zumindest so lange, wie man die Texte des Neuen Testamentes nicht (historisch) hinterfragt.

Im übrigen ist es doch beruhigend für mich, daß ich anscheinend nicht der einzige bin, für den die Frage der Historizität ein zentrales Thema ist. Inzwischen bin ich auf etliche Bücher gestoßen, die mir da sehr weiterhelfen; genaueres später, denn:

Ich bin derzeit ziemlich im zeitlichen Engpaß und komme nicht zu einer längeren Antwort. Dies daher nur als „Zwischenmeldung“ und „Lebenszeichen“. Sobald ich kann, lasse ich ausführlich hören.

steppenwolf
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Post by steppenwolf »

SiCollier, da bin ich froh, dass es zumindest Dich nicht verletzt hat.
Nein, das kann ich so nicht sagen. Man denkt nicht weiter darüber nach. Es ist eben so. Zumindest so lange, wie man die Texte des Neuen Testamentes nicht (historisch) hinterfragt.
Sollte ich den Eindruck vermittelt haben, mit meinen letzten beiden Einträgen das Neue Testament historisch zu hinterfragen, habe ich mich mich sicher nicht klar ausgedrückt. Mir ging es um die Hinterfragung der zentralen Symbole des Christentums. Die Kreuzigung und die Kommunion (danke für die diskrete Korrektur meines Rechtschreibfehlers im Zitat) haben auch ohne einen historischen Bezug - den ich nicht abstreite - eine Bedeutung für den reliösen Menschen. Die Frage der Historizität ist für mich nicht das zentrale Thema, es geht mir um den Archetyp. Für gläubige Christen ist es sicher nicht befremdlich, hier war ich zu provokativ. Wie Du selbst sagst: Es wird nicht hinterfragt, weder historisch (das schon eher, was aber nicht mein Anliegen war) noch tiefenpsychologisch (worum es mir ging und was mit Entzug der Lehrerlaubnis verbunden ist).
Ich frage nicht nach richtig oder falsch. Ich frage danach, was es mit dem gläubigen Menschen macht, welche unbewussten Muster damit getriggert werden. Z.B. könnte man psychoanalytisch deuten, dass es sich um eine Regression auf die orale Ebene handelt. „Nur was ich in den Mund nehmen kann, kann ich begreifen.“ Hier könnte man die Ursache unseres Konsumdenkens vermuten. Ich tue das nicht, mir ging es mit dem Beispiel nur darum, es von der Frage nach der Historizität abzugrenzen, die z.B. so lauten könnte: „Hatten die Römer wirklich ein Interesse, innerjüdische Angelegenheiten mittels ihrer Rechtssprechung zu klären?“, „Reichen sechs Stunden, um am Kreuz zu sterben?“ oder „Wenn einem eine Lanze in die Seite gestochen wird und Blut fliesst, ist er dann wirklich tot?“ Diese Fragen stelle ich nicht. Ich frage, warum Gott ein Menschenopfer zur Vergebung braucht - unabhängig davon, ob Jesus am Kreuz gestorben ist - und was diese Tatsache und das damit verbundene Gottesbild mit den Menschen macht, die daran glauben. Im Ich-Bewusstsein sicher etwas Gutes. Die Inquistoren waren sicher davon überzeugt, die Seelen der Gefolterten und Verbrannten zu retten. Aber was löst es unter der Oberfläche aus, im Unbewussten? Als Beispiel habe ich schon die Johannes-Apokalypse angebracht - wie ich finde eine schlechtes Zeugnis für einen Gott der Liebe und Vergebung, der „Liebe Deine Feinde“ gepredigt hat, aber in der Apokalypse, z.B. Kapitel 14, verkünden lässt:

18 Vom Altar her kam noch ein anderer Engel, der die Macht über das Feuer hatte. Dem, der die scharfe Sichel trug, rief er mit lauter Stimme zu: Schick deine scharfe Sichel aus, und ernte die Trauben vom Weinstock der Erde! Seine Beeren sind reif geworden.
19 Da schleuderte der Engel seine Sichel auf die Erde, erntete den Weinstock der Erde ab und warf die Trauben in die große Kelter des Zornes Gottes.
20 Die Kelter wurde draußen vor der Stadt getreten, und Blut strömte aus der Kelter; es stieg an, bis an die Zügel der Pferde, eintausendsechshundert Stadien weit.

Doch um zum Thema der Kommunion zurückzukommen, wo Du mir erwidertest „Es ist eben so. Zumindest so lange, wie man die Texte des Neuen Testamentes nicht (historisch) hinterfragt.“ Auch hier stelle ich keine historisch-kritische Frage (“Wie konnte der besitzlose Jesus zur besten Passahzeit in der Innenstadt von Jerusalem einen Raum mieten und zwölf Gefährten bewirten?“) Es ist eben so, das sehe ich genauso. Hier liegt aber der Ursprung einer SYMBOLISCHEN Verspeisung eines Menschen. Wie gesagt: Mir geht es auch nicht um die moralische Frage, ob es richtig oder falsch war - ein Symbol ist eben so. Vielleicht war das, was die Inquisitoren gemacht haben, richtig. Für sie subjektiv sicher, für mich subjektiv sicher nicht. In der ideologieärmsten Form möchte ich fragen „Besteht hier ein Zusammenhang?“


Martin_Weyers
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Post by Martin_Weyers »

Ich denke, jeder sollte die Religion wählen, die ihm am meisten liegt (oder die Religionslosigkeit). Insofern möchte ich mit dieser Post keine Religion von einem scheinbar objektivierten Standpunkt aus kritisieren, sondern nur ein paar persönliche Überlegungen zum angesprochenen Thema der unterschiedlichen Deutung des Abendmahls mitteilen.
On 2004-12-11 06:04, steppenwolf wrote:
Für Katholiken muss die Vorstellung, in der Heiligen Komunion den wahrhaften Leib Christi zu verspeisen, noch befremdlicher sein.
Spricht darin nicht der Gott des Alten Testaments?
oder eher ein noch älterer Gott, vielleicht der, den Jahwe-Elohim verdrängt hat?
Ein junger katholischer Theologe erklärte mir diese angenommene Identität von Hostie und Leib Christi einmal in einem neoplatonischen Sinn. Demzufolge handelt es sich um eine wesenhafte Identität, nicht um eine vordergründig phenomenale. Insofern läßt sich diese Lehre durchaus auf verschiedenen Ebenen begreifen (auch wenn sich der Großteil der Kirchengemeinde kaum für solche philosophischen Feinheiten interessieren dürfte.)

Ich muß gestehen, daß mir (obwohl ich kein gläubiger Katholik bin und die Hostie mir persönlich nicht mehr als ein Stück Brot in bescheidener Rationierung bedeutet, das man sich mit 45 Minuten Langeweile zu erwerben hat) die katholische Lehre sympathischer ist als die protestantische.

Für den Katholiken stellt die Hostie ein Symbol dar. Für den Protestanten ist sie nur ein Symbol.

Befremdlich scheint mir die ganze Entsinnlichung und Entmythologisierung im Protestantismus, die Symbole rational deuten will. Rationalismus ist in meinen Augen nur eine moderne Form des Aberglaubens. Insofern sehe ich nicht, daß die protestantische Deutung des Abendmahls der katholischen überlegen wäre.

Sieht man in der Hostie den wahrhaftigen Leib Christi, so ließe sich dies durchaus als ein Schritt im Hinblick auf eine mystische Wirklichkeitserfahrung deuten, die darauf hinausliefe, Gott in Allem zu sehen und zu erfahren.

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<font size=-1>[ This Message was edited by: Martin_Weyers on 2004-12-22 10:01 ]</font>

steppenwolf
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Post by steppenwolf »

Hallo Martin, da Deine einführenden Einschränkungen offensichtlich auch auf mich bezogen waren, zunächst einige Worte dazu: Dass jeder die Religion wählen sollte, die ihm am meisten liegt, steht ausser Frage. Mir geht es nicht darum, „eine Religion von einem scheinbar objektivierten Standpunkt aus zu kritisieren“. Niemand kann einen objektiven Standpunkt einnehmen, jeder ist aber persönlich unterschiedlich involviert. Und da hier über andere Religionen wie über Mythologien debattiert wird, erlaube ich mir dasselbe mit dem Christentum, dem ich nicht anhänge. Wie gesagt: Mir geht es nicht um richtig oder falsch, nicht um historisch oder unhistorisch. Mir geht es um die Frage, ob die zentralen Symbole des Christentums auf ein älteres Gottesbild zurückgreifen, und ob es denkbar wäre, dass damit auch auf andere Aspekte dieses Gottes zurückgegriffen wird, die unbewusst weiterwirken und den offensichtlichen Widerspruch zwischen Lehre und Ausübung EINZELNER, aber einflussreicher Kirchenführer erklären können.
Dass die Theologie gute philosophische Erklärungen für dieses Mysterium gefunden habt, sehe ich auch. Was davon WIRKT aber auf den Gläubigen, der sich - wie Du selbst sagst - kaum für solche philosophischen Feinheiten interessieren dürfte.
Mir erscheint das Mysterium etwas befremdlich, mir in meiner subjektiven Meinung. Dass die Katholische Kommunion für den Gläubigen nicht befremdlich ist, habe ich bereits gesagt. Ich möchte diese Äusserung ausdrücklich zurücknehmen und mich dafür entschuldigen. Im Gegenteil denke ich, wie Martin, dass die Kommunion näher an der mystischen Erfahrung ist als das Abendmahl. Mir ging es auch nicht um eine rationale Deutung, sondern um die Frage nach der WIRKUNG des Mysteriums (das für Katholiken lebendiger ist, daher mein Lapsus). Diese Frage ging aber in erster Linie an den Kreuzestod; die Kommunion war mir damit im Zusammenhang aufgefallen.
Dass die ganze Entsinnlichung und Entmythologisierung im Protestantismus weiter von der religiösen Erfahrung entfernt ist, sehe ich ebenso. Ich teile diesen Rationalismus nicht, sondern finde ihn noch besorgiserregender. Daher sehe ich die protestantische Deutung des Abendmahls der katholischen in keiner Weise als überlegen, wie Du (Martin) mir unterstellst. Es wäre schön, wenn für die Mehrheit der Christen die Aufnahme der Hostie als den wahrhaftigen Leib Christi eine mystische Wirklichkeitserfahrung bedeutet, „die darauf hinausliefe, Gott in Allem zu sehen und zu erfahren.“ Katholiken haben hier sicher eher die Chance einer mystischen Erfahrung als Protestanten. Aber ist es so, zeigt das die Erfahrung?


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